14.11.10

Rezension: Hans Belting (Hg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch

Hans Belting (Hg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, 357 S., München (Wilhelm Fink Verlag) 2007 (ISBN 978-3-7705-4457-8), 34,90€ (zuerst veröffentlicht in: Journal für Kunstgeschichte 11, 2007, 351-360.

Dieser Sammelband vereint 17 Beiträge eines von Hans Belting organisierten Colloquiums „Bildwissenschaft? Eine Zwischenbilanz"[1], ergänzt „durch Texte von grundsätzlichem Charakter". Meine Besprechung versucht, den Herausgeber und seine Publikation beim Wort zu nehmen, ist also eher eine Bilanz der Zwischenbilanz, weniger eine Rezension im traditionellen Sinne. Allerdings ist einschränkend zu sagen, dass der Band nicht hält , was er verspricht, so dass man sein Informationsbedürfnis z.T. woanders stillen muss[2]. Er ist weder Zwischenbilanz, noch ein Überblick über den Stand der Bildwissenschaften. Die Einleitung des Herausgebers verdient diesen Titel nicht, und der Briefwechsel zwischen den Autoren der Schlagworte Iconic turn und pictorial turn, Gottfried Böhm und W.T.J. Mitchell, ist kaum als echter Dialog zu bezeichnen. Der Band enthält keinen bibliographischen Anhang und kein Register, nur ein Autorenverzeichnis. Die Schwarz-Weiß-Illustrationen sind durchwegs mäßig reproduziert. Anscheinend sind die Bildwissenschaftler an den visuellen Qualitäten von Bildern nicht wirklich interessiert. Sie dienen nur als Aufhänger zum Theoretisieren.
Die Einleitung des Herausgebers „Die Herausforderung der Bilder. Ein Plädoyer und eine Einführung" wechselt von Betrachtungen über das Bild an sich unvermittelt zur Kurzdiskussion einzelner neuerer Publikationen und zu Bemerkungen über die im Band versammelten Aufsätze. Der Text scheint in großer Eile hingeworfen zu sein. Sätze wie „Solche Vorzüge lassen sich von dem Bild gewöhnlich nicht sagen" (S. 15) und: „Ein Bild zu denken, bedeutet immer, an seinen Gehalt zu denken, an seinen Kontext als Rahmen – also zum Beispiel an jenen Bildschirm, auf dem man sie entdeckt hat" (S. 17) oder falsche Metaphern wie: „Das Projekt der Bildwissenschaften ... findet auf einem Gelände statt, das noch gar nicht ausgelotet ist" (S. 21) war man bisher von diesem Autor kaum gewohnt.
Der Gegensatz zwischen Bild und Kunstwerk und die daraus resultierende Forderung nach einer eigenen Bildwissenschaft klingt erstmals an in Beltings 1991 erschienenem Hauptwerk „Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst"[3]. Dort konstruiert er einen Gegensatz zwischen dem vorkünstlerischen, machtvollen Bild und der Museumskunst. Das läuft letztlich auf eine Fundamentalkritik an deren Sachwalterin, der Kunstgeschichte, hinaus: Der bescheinigt er in seinem Pamphlet „Das Ende der Kunstgeschichte?", sie versage angesichts der Erfahrung der „Diskontinuität, die zwischen heutiger und historischer Kunst liegt". Für die Kunst der Moderne benötige man einen grundsätzlich anderen Forschungs- und Erklärungsansatz. Doch sei auch „das von der Avantgarde inspirierte Modell für die Geschichtsdarstellung der modernen Kunst nicht mehr zwingend. Eine dritte Kunstgeschichte würde damit möglich, die weder die Weihen der einen noch den Wahrheitsanspruch der anderen hat, aber beide beerben kann..."[4]. Belting sieht seine Bemühungen als Teil einer kulturellen Wende, die dem Bild gegenüber dem Wort größeres Gewicht gibt[5]. Dies führte ihn zu einem Bündnis mit Gottfried Boehm, dem Protagonisten des ‚iconic turn'.
Was als neuer Ansatz angepriesen wird, ist jedoch seit langem Thema der Kunstgeschichte: Wir finden es u.a. in der Wiener Schule seit Wickhoff und Riegl, außerdem bei Aby Warburg und anderen. Erst recht zieht sich durch alle Schriften Rudolf Berliners die Grunderfahrung, dass das Wort keine Priorität vor dem Bild habe und dass Bilder keinesfalls nur als Umsetzung theologischer Texte gelten können[6].
Die neu konzipierte Bildwissenschaft beruht also auf einigen unzulässigen Vereinfachungen und Verallgemeinerungen: das Fach Kunstgeschichte war und ist keineswegs so ausschließlich an einen Kunstbegriff gefesselt, wie behauptet. Auch sind viele der angeblich vor dem Zeitalter der Kunst geschaffenen Werke, wie die Arbeiten des Goldschmiedes Nikolaus von Verdun, durchaus Kunst, die nicht nur in der Form, sondern auch in der Theorie am Kunstverständnis der Antike orientiert ist. Andererseits sind viele Bilder aus der Zeit der Renaissance und des Barock, z.B. Flugblätter und Embleme, nicht primär Kunstwerke und deshalb dankbare Objekte für bildwissenschaftliche Studien. Selbst die Analyse zeitgenössischer Kunst ist schief: denn der ältere Kunstbegriff lebt allein schon deshalb weiter, weil die Künstler, der Kunstmarkt, die Kunstsammler, überhaupt der ganze Kunstbetrieb von ihm leben. Auch der Anspruch der Avantgarde-Kunst auf Autonomie ist längst entlarvt, ihr Warencharakter offenkundig. Bezeichnenderweise wird die ökonomische Determinierung aller Institutionen der Künste und Medien, auch des künstlerischen Tuns und seiner ideologischen Begründung, in keiner Schrift dieses Kreises auch nur mit einem Wort erwähnt.
Die neue Disziplin der Bildwissenschaft nennt sich derzeit meist im Plural Bildwissenschaften, analog zu den Medienwissenschaften, von denen Belting sie jedoch absetzt, ebenso von der Semiotik[7]. Es hat etwas Widersprüchliches, wenn er sich sowohl als Bildwissenschaftler wie als klassischer Kunsthistoriker bezeichnet und eine Differenzierung der kunstwissenschaftlichen und der bildwissenschaftlichen Methode fordert, – diese sei erst im Entstehen. Im Selbstverständnis der meisten ihrer Anhänger ist die Bildwissenschaft eine übergeordnete, theoretische Rahmendisziplin, die verschiedene Wissenschaften zusammenfassen soll[8], wobei recht heterogene Positionen vertreten werden. So fordert ein Sponsor dieser Bewegung, der Illustrtiertenverleger Hubert Burda, „dass eine ganz neue Generation von Bild-Experten entsteht. Es muss Menschen geben, die wissen, wie Bilder entstehen, sowohl ganz praktisch wie auch in der Imagination, und die sagen können, auf welche Weise Bilder gelesen werden müssen und warum es wichtig ist, den Kontext ... mit einzubeziehen. Es ist außerdem von großer Wichtigkeit, dass man erklären lernt, auf welche Weise welche Bilder wirken und sich mit der Macht [!!] verbinden"[9].
Belting dagegen konzentriert sich seit einigen Jahren auf die Suche nach einer Anthropologie des Bildes: „Für mich ist jetzt die Frage wichtiger, wie wir überhaupt mit Bildern umgehen, welche Organe wir für Bilder haben. Ich würde meinen, dass das auch eine Frage ist, die mir auch erlaubt, die Textgebundenheit und jetzt neuerdings die Technikgebundenheit der überwältigenden Mehrheit der Geisteswissenschaften kritisch zu sehen... Der Begriff ‚Anthropologie'...dient... dazu, eine rein historische Ausrichtung der Bildgeschichte zu vermeiden, und nicht nur die Artefakte mit einzubeziehen, die physischen Bilder, sondern auch die mentalen Bilder, die Bilder der Erinnerung und damit die Interaktion zwischen dem Imaginären und der Bildproduktion, zwischen der persönlichen Bildwahrnehmung und dem, was man im sozialen Raum als Bildprodukte vorfindet, zu thematisieren"[10]. „Ich kann ... die Frage nach dem Bild nur stellen, wenn ich einerseits die Frage nach dem menschlichen Körper stelle, der Bilder wahrnimmt, Bilder erinnert und auch produziert, und andererseits die Frage nach dem Trägermedium, nach dem Gastmedium der Bilder"[11].
Will man also Beltings neuere Arbeiten verstehen, hat man sich mit seinen anthropologischen Thesen zu beschäftigen[12]. Seine Vorgehensweise sei an einem Beispiel analysiert, dem Aufsatz über die altniederländischen Porträts: „Wappen und Porträt. Zwei Medien des Körpers"[13]. Der Leser wird von Anfang an irritiert durch den eigenartigen Gebrauch des Begriffs ‚Körper'. Ohne die Einführung des Autors oder – eher noch – den Text von Martin Schulz gelesen zu haben[14], wird er nicht begreifen, was gemeint ist. Über manche Sätze muss der Uneingeweihte lange brüten, ehe er den Sinn erahnt, z.B. auf S. 126: „Als Zeichengefüge bejahte das Wappen die faktische Oberfläche des Mediums auch im symbolischen Sinne der Körperabstraktion."
Belting eröffnet den Text mit einer Reihe apodiktischer Grundsatzerklärungen, z.B.: „Ähnlich ist das Problem [der Auffassung des Körpers], wenn man das frühe Porträt auf ein Subjekt oder Individuum bezieht, dessen Begriff damals nur ein historischer sein konnte, wenn es denn schon einen Begriff besaß"[15]. Abgesehen davon, dass man herumrätselt, was der Autor mit einem ‚historischen Begriff' meint, ist festzuhalten, dass eine Gesellschaft keineswegs den ‚richtigen Begriff' von dem haben muss, was sich in ihr ereignet. Es ist z.B. gewiss, dass es im Mittelalter Wirtschaftskonjunkturen und –krisen gegeben hat, ehe man die Begriffe dafür hatte – man nannte es Teuerung oder Preisverfall.
Wie der Autor in seinem oben zitierten Interview betonte, geht es ihm darum, eine „rein historische Ausrichtung der Bildgeschichte zu vermeiden"[16]. Es wundert dann weniger, dass manche seiner Behauptungen historisch unhaltbar sind, so etwa die, dass die niederländische Berufsbezeichnung ‚schilderer' für Maler seine Theorie des engen Zusammenhangs zwischen Wappenschild und Porträt bestätige. Er konstruiert entgegen den historischen Fakten einen Gegensatz zwischen Adel und Bürgertum, so S. 125, wo es u.a. heißt: „Die bürgerlichen Porträts der frühen Realisten ... befreien den Körper aus der sozialen Hierarchie und machen ihn zum Träger einer Person in den Grenzen bürgerlichen Standesdenkens." Das Verhältnis zwischen Bürgerlichen und Adligen ist an allen französisch geprägten Höfen viel komplexer, als es bei Belting erscheint. Man darf jedoch sagen, dass der Adel als Reaktion auf die Bevorzugung bürgerlicher Räte durch die Fürsten auf seiner Ahnenreihe insistierte und seine Ansprüche durch Ausbau des heraldischen Apparats demonstrierte. Das Verhalten der aufstiegswilligen Bürger hingegen wird durch die Nachahmung des Adels geprägt. Deshalb unterscheidet sich die Selbstdarstellung der bürgerlichen Mitglieder des Hofes kaum von der der adligen, außer dass sie den Orden des Goldenen Vließ nicht erlangen konnten[17].
Es ist eine kühne Behauptung (S. 119), „dass die Porträttafeln nicht des Dargestellten, sondern des Künstlers wegen überliefert wurden." Unwidersprochen kann auch nicht die folgende These bleiben: „Rogiers Bildnis des Francesco d'Este behauptet die Äquivalenz von Bild und Zeichen [d.h. dem auf der Rückseite gemalten Wappen] als komplementärer Ansichten einer Standesperson. Nur ein moderner Blick sieht im Wappen nichts als die Rückseite des Porträts. Bildnis und Wappen, die denselben Körper auf zwei verschiedene Begriffe bringen, teilen in diesem Falle denselben medialen Körper (die Tafel) miteinander"(S. 129). Dem ist entgegenzuhalten, dass die Wertigkeit in der Unterscheidung von Vorder- und Rückseite im Alten Europa viel ausgeprägter war als heute. Man kann dies an jedem Polyptychon ablesen: Dort wird anschaulich, wie je nach der jeweiligen Wandlung der Flügel, aber auch nach Stellung und Rang des Auftraggebers und der Aufgabe sorgfältig Schmuck und Bildarchitektur der jeweiligen Wandlung abgestuft sind. Die historischen Quellen sind im übrigen voll von Nachrichten darüber, wie sehr es z.B. als Affront empfunden wurde, sich von jemandem ostentativ abzuwenden, ihm den Rücken zuzudrehen oder an einen vom Zentrum entfernteren Platz versetzt zu werden. Somit ist von vorneherein ausgeschlossen, dass die Rückseite dieselbe Wichtigkeit besitzt wie die Vorderseite: hätten die Maler die Gleichwertigkeit beider zum Ausdruck bringen wollen, hätten sie für gleichen Aufwand an Schmuck und malerischer Ausführung gesorgt[18].
Beltings Anspruch bei seiner Aufwertung des Trägermaterials der Holzbretter als einer der ‚Körper' des Bildes ist hoch: „Erst die Beziehung von Bild und Medium, als einer Doppelaussage, eröffnet den Zugang zu einer zentralen Erfindung der europäischen Bildkultur". Es gelingt ihm jedoch nicht, seine These über den Wesenszusammenhang zwischen Bild, Holzschild und Wappen als entscheidenden Impuls für die Entstehung des frühen Porträts überzeugend zu begründen. Andere Erklärungsvorschläge diskutiert er nicht. Auf die Geschichtsschreibung des Porträts geht er nicht ein, weder auf Panofskys Ausführungen, noch etwa die von Lorne Campbell[19]. Die Bedeutung von Skulpturen und Miniaturen für die Genese des Porträts wird übergangen. Genauere historische Recherchen werden nicht unternommen. Die in immer neuen Wendungen vorgetragene Grundidee weckt Überdruss, da der Begriff ‚Körper' auf sechsundzwanzig (zudem meist mit Illustrationen versehenen) Druckseiten über einhundertunddreißig mal genannt wird, in manchen Absätzen bis zu zehnmal. Dieser exzessive Gebrauch soll uns einhämmern, dass man nur auf diese Weise an die Materie herangehen kann, dass ein grundsätzlich anderes Vorgehen gefordert ist, das nur die anthropologische Bildwissenschaft bieten kann.
Die Zahl der Fehleinschätzungen und Irrtümer in Beltings Text ist insgesamt sehr groß[20]. Noch störender ist der flüchtige Umgang mit den Objekten selbst, so als würden die am Bilde zu machenden Befunde nicht relevant sein. So wird in diesem vor allem der Frage nach dem Körperverständnis nachgehenden Aufsatz gerade nicht die Einstellung der Maler zum Körper an den Bildern selbst untersucht: Dabei gäbe es einige erhellende Möglichkeiten, so etwa den Vergleich der Porträts von Margarete van Eyck im Brügger Museum mit dem einer jungen Frau von der Hand Rogier van der Weydens in Berlin[21]. Was bleibt von seinem Aufsatz? Eigentlich nur die nicht eben prickelnde Feststellung, dass die Porträts nicht nur die physiognomische Erscheinung der burgundischen Adligen des 15. Jahrhunderts, sondern auch ihre Heraldik aufwändig inszenierten, und es bleibt der berechtigte Vorwurf an die Kunsthistoriker, aufgrund von ästhetischen Vorurteilen die Rückseiten der Porträts und die Bedeutung der Heraldik bei der Selbstinszenierung der burgundischen Herren vernachlässigt zu haben.
Kommen wir auf die ‚Bilderfragen' zurück, auf einige der anderen Beteiligten. Leider besteht die so lautstark betonte Interdisziplinarität nur darin, dass Autoren aus verschiedenen Fächern mitwirken. Eine echte Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen findet nicht statt. Sie ist in der Tat nur schwer zu erreichen, so sehr sie auch gefordert wird. Immerhin zeigen einige Beiträge, was für ein Gewinn durch den Dialog verschiedener Fächer für alle Beteiligten zu erlangen ist.
Der Aufsatz des Berliner Literaturwissenschaftlers Horst Wenzel: „Zur Narrativik von Bildern und zur Bildhaftigkeit der Dichtung. Plädoyer für eine Text-Bild-Wissenschaft"[22] wirbt für eine wechselseitige Öffnung von Literatur- und Kunstwissenschaft. Er demonstriert an dem Ethiklehrbuch des ‚Welschen Gastes' von Thomasin de Zerklaere, dass sich die Bildwissenschaft keineswegs auf die materiellen Bilder beschränken darf, sondern auch die „inneren Bilder" zu berücksichtigen hat. Dazu zählt er auch die Imaginationsstrategien, abstrakte Themen zu verbildlichen und so evident zu machen, als seien sie gegenwärtig, so dass die Adressaten meinen, das vor ihr inneres Auge Gestellte selber wahrzunehmen. Er schreibt: „[Belting] vollzieht damit eine grundlegende Blickwendung von der materiellen Kunstgeschichte zu einer performativ bestimmten ‚Ikonologie', die Literar- und Kunsthistoriker enger zusammenführt" (S. 318). „Bilder ... sind ein Modus des Denkens und können in der Rede kommuniziert werden. Folgerichtig gelten auch schriftliche Texte als bildgebende Medien, denn sie liefern Vorstellungsbilder, an denen sich der Leser oder Hörer orientieren kann" (S. 320). „Die komplexe Bedeutung von mittelhochdeutsch Bilde als Abbild und Vorbild, als innere und äußere Wahrnehmung, die schriftlich oder bildlich vermittelt werden kann, verweist auf die enge Verbindung von visio spiritualis und visio corporalis..." (S. 321). [Es] „relativieren sich die heute so betonten Gegensätze von Schrift und Bild" (S.322). Er plädiert für eine neu zu erschließende ‚Poetik der Sichtbarkeit' (S. 325). An ausgewählten Beispielen macht er deutlich, dass „das innere Bild ... unproblematisch in den Raum der Sichtbarkeit verschoben [wird]. Dem adressierten Leser  ... wird das Gedankenbild ansichtig, der Innenraum der Imagination" (S. 326). [Es] wird dabei erkennbar, wie selbstverständlich für den mittelalterlichen Hörer oder Leser sprachlich vermittelte Bilder ‚anschaulich' erscheinen konnten" (S. 326). Der Text endet mit einem passenden Beleg, dass die inneren Vorstellungsbilder nicht nur ‚äußere' Bilder generieren können, sondern dass auch im Laufe der Jahrhunderte erfolgte Verschiebungen im Textsinn sich auf die Konzeption der Bilder bzw. der Illustration als ganze niederschlagen (S. 330f.). Wenzel greift damit etwas auf, was Adolph Goldschmidt in seinen Studien über den Utrecht- und den Albani-Psalter begonnen hatte: nach der Methodik der bildlichen Umsetzung von metaphorischen Redewendungen der Psalmen zu fragen, wofür er den Begriff der ‚Wortillustration' prägte, ein Ansatz, der allerdings etwas in Vergessenheit geraten ist. Hier ist gerade für eine sich als Bildwissenschaft definierende Disziplin noch sehr viel zu tun[23].
Der Anspruch der Bildwissenschaftler, über neue und bessere Methoden zu verfügen, ist einige Male überzogen, so im Aufsatz von Elisabeth v. Samsonow: Bilder und Codes von Plastizität[24]. Es ist eine Anmaßung, ohne Not zwei alte, genau definierte und trotz ihres metaphysischen Charakters einander ausschließende Begriffe wie Ontologie und Theologie zu einer Ontotheologie zusammenzufügen und dann zu erklären: "Als ‚ontotheologisch' bezeichne ich ... eine Perspektive, die erlaubt, das Thema Körper und Bild über seine engere Geltung hinausgehend so zu diskutieren, dass Modi des Seins mit Werden und Vergehen des Körpers verknüpft werden und also auch ein allgemeiner Kreationismus, wie er gewöhnlich für den Schöpfergott reserviert gewesen war, philosophisch in Anspruch genommen wird" und wenig später: "Die Aufgabe besteht darin, ontotheologische Strukturen in einen gegenwärtigen Horizont zu verschieben, sie in eine neue Problemlage und in eine neue Begrifflichkeit zu übersetzen"(S. 271). Es bedürfte längerer Ausführungen um zu zeigen, was alles an diesen wenigen Zeilen falsch oder zumindest schief ist. Derartiger Jargon macht eine Wissenschaft in den Augen ihrer Nachbarfächer zum Gespött.
Überhaupt ist der Umgang mit den Begriffen und der Sprache oft fahrlässig. Allerdings findet sich dergleichen auch in anderen Fächern. So übernimmt Klaus Krüger von Roland Barthes den Begriff des Palimpsestes, den er in den Mittelpunkt seines Aufsatzes stellt[25]. Man versteht sehr wohl, was ihn daran reizt: dass Älteres in Neuerem durchscheint, dass es weiterwirkt. Genau besehen ist ein Palimpsest jedoch ein Schriftstück, dessen ursprünglicher Text ausradiert und überschrieben, d.h. gelöscht wurde. Das Wort kann deshalb m.E. nicht als Metapher bzw. als Begriff für eine positive Rezeption verwendet werden. Es kann kaum gelingen, einem eindeutigen Begriff eine seinem Wortsinn widersprechende neue Bedeutung geben zu wollen.
Insgesamt operieren die Bildwissenschaftler auf einer sehr schmalen Materialbasis, aber dafür einer umso höheren allgemeinen Ebene. Insgeheim hängen sie immer noch an dem autonomen, im Museum hängenden Tafelbild bzw. an Bildschirm und Filmleinwand. Die großen Zyklen der Wand- und Glasmalerei sowie die Bildermengen der Buchmalerei und der graphischen Künste werden ebenso wenig berücksichtigt wie die Teppichserien, die Goldschmiedekunst und andere künstlerisch gestaltete Objekte der Lebenswelt, erst recht die Skulptur und die Architektur sowie ihre mobile und immobile Ausstattung. Zum Ornament weiß sie so wenig zu sagen wie zu den verwendeten Materialien und zur Technik; erst recht interessiert sie sich nicht für die Probleme der Erhaltung, Restaurierung und Denkmalpflege. Sie kann sich deshalb nur an den Hochschulen und elitären Forschungsstätten einnisten. Die Studierenden werden durch sie den Erfordernissen der Praxis entfremdet, das Fach Kunstgeschichte zur akademisch-elitären Disziplin umgewandelt. Ihre Forderung, Bilder nicht nur unter dem Kunstaspekt zu betrachten sind berechtigt und verdienen befolgt zu werden. Dies kann aber m.E. nur innerhalb der Kunstgeschichte als eines ihrer Teilgebiete geschehen. Geht sie jedoch auf ihrem Weg in dem Sinne fort, wie sich das in den „Bilderfragen" andeutet, wird sie die Schieflage der Kunstgeschichte nur verstärken, für sich selbst aber kein ausreichendes Wirkungsfeld gewinnen.
Das zeigt z.B. der Blick auf den Stand der Inventarisation der Kunst-, Kultur- und Geschichtsdenkmale: dass sie weitgehend zum Erliegen gekommen ist, wird wesentlich der Tatsache geschuldet, dass der zugrunde gelegte Kunstbegriff eben nicht mehr der alte eingeengte ist, den die Bildwissenschaft meint, an der Kunstgeschichte tadeln zu müssen, sondern ein viel weiterer und modernerer. Die von den Bildwissenschaftlern geförderte Abschottung gegen die Geschichtswissenschaften und jede Kontextforschung sowie die Ablehnung gegen Kärrnerarbeit würden die Abneigung gegen Inventarisationstätigkeit noch verstärken. Doch bleibt nach wie vor die Erfassung der zahllosen unbearbeiteten, ja unbekannten und unbeachtet verfallenden Bau- und Kunstdenkmäler gerade der Moderne eine unserer Hauptaufgaben. Wer sich in den Elfenbeinturm reiner Theorie zurückzieht, wird eines Tages feststellen, dass er in ein Luftschloss ohne feste Böden eingezogen ist. Wer sich der Arbeit mit und an den Objekten entzieht und die Gruppe der Willigen obendrein noch schwächt, wird sich fragen lassen müssen, ob er mit seinen Glasperlenspielen nicht nur das Fach Kunstgeschichte in eine prekäre Lage gebracht, sondern - schlimmer noch - den Verlust vieler Kunst- und Kulturgüter mitverursacht hat.


[1] Das Colloquium fand statt im Internationalen Forschungszentrum für Kulturwissenschaften in Wien 2005.
[2] Martin Schulz: Ordnungen der Bilder. Eine Einführung in die Bildwissenschaft, München 2005.- Klaus Sachs-Hombach: Wege zur Bildwissenschaft, Interviews, Köln 2004.- Christa Maar / Hubert Burda (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004.
[3] München 1991, 1992.
[4] München 1983, S. 38-40; s.a. Ders.: Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, München 1995. Zum Verhältnis von Kunstgeschichte und Bildwissenschaften s. zuletzt Willibald Sauerländer: Kunstgeschichte und Bildwissenschaft, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft 8, 2007, S. 93-108.
[5] Belting in: Hombach (wie Anm. 2), S. 124.
[6] Rudolf Berliner: „The Freedom of Medieval Art" und andere Studien zum christlichen Bild, hg. von R. Suckale, Berlin 2003. Einige Schriften Berliners sind aufgeführt in der Bibliographie von Hans Belting: Das Bild und sein Publikum im Mittelalter. Form und Funktion früher Bildtafeln der Passion, Berlin 1981, S. 296, danach jedoch nicht mehr.
[7] In „Das Bild und sein Publikum" (wie Anm. 6) ist sein Verhältnis zur Semiotik noch sehr viel positiver.
[8] Belting in: Hombach (wie Anm. 2), S. 119 u. 117. S. 81 äußert er sich sehr skeptisch zu deren Aussichten.
[9] Maar / Burda (wie Anm. 2), S. 13.
[10] Belting in: Hombach (wie Anm. 2), S. 118f.
[11] Belting in: Hombach (wie Anm. 2), S. 120.
[12] Hans Belting: Medium – Bild – Körper. Einführung in das Thema, in: Ders.: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S.11-55.
[13] Wappen und Porträt. Zwei Medien des Körpers, in: Belting (wie Anm. 12), S. 115-142.
[14] Belting (wie Anm. 12). Schulz (wie Anm. 2), S. 125ff. Mit einer gewissen Verlegenheit heißt es dort: „Es bedarf einer einleitenden Erklärung, warum der zweite ikonologische Bezugspunkt ... allgemein und daher missverständlich als Körper bezeichnet wird. Weder ist damit nur der bildlich dargestellte und zu bestimmten Zwecken inszenierte Körper gemeint, noch allein der wahrnehmende, Innen und Außen verknüpfende Leib, wie der unübersetzbar deutsche und vor allem in der phänomenologischen Philosophie gängige Terminus lautet. Dieser meint, im Unterschied zum medizinisch objektivierten Körper, den mit Subjekt und Seele belebten, empfindenden, denkenden und in der Welt sich ausdrückenden und projizierenden Körper.. Ausgegangen wird ... von dem engen, fast osmotischen, jedenfalls für die Bildwahrnehmung entscheidenden Wechselverhältnis zwischen den inneren Bildern, die als Seh-, Traum-, Vorstellungs- oder Erinnerungsbilder im Körper entstehen, gespeichert, erinnert und projiziert werden, und den äußeren Bildern, die in externen und künstlichen Medien verkörpert werden. In diesem Verständnis vom Körper ist zum einen der Dualismus von Leib und Seele oder Geist und Materie aufgehoben. Zum anderen, damit zusammenhängend, soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die Wahrnehmung nicht allein ein kurzgeschlossener Prozess zwischen registrierendem Auge und neuronal verarbeitendem Gehirn ist, sondern den gesamten Körper und alle seine Sinne an der Bilderfahrung beteiligt." (S.125).
[15] Belting wie Anm. 13, S. 115.
[16] Belting bezieht sich hier auf Gottfried Boehm: Bildnis und Individuum. Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance, München 1985. Bereits der Untertitel des Buches ist in wesentlichen Punkten falsch. Lehrreich ist der Vergleich seiner Ausführungen S. 150ff. zu Giovanni Bellinis Porträt des Dogen Loredan mit denen von Norbert Huse: Studien zu Giovanni Bellini, Berlin u. New York 1972, S. 97f., die zu diskutieren er überflüssig fand; dabei stellt sich heraus, dass Boehm extrem logozentrisch ist und dem Visuellen der Bilder selbst kaum etwas abgewinnen kann. Zu seiner These, die altniederländischen Bilder besäßen keine Individualität s. Gregor Wedekind: Wie in einem Spiegel. Porträt und Wirklichkeit in Jan van Eycks „Arnolfinihochzeit", in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 70, 2007, S. 325-346, hier S. 345.
[17] Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft, Neuwied und Berlin 1969. Es gab jedoch durchaus Ritterorden, die auch für Bürgerliche zugänglich waren; s. z.B. die Ordenssammlung des Nürnberger Patriziers Hans VI. Tucher in seiner 1485 datierten Votivtafel in St. Sebald in Nürnberg.
[18] Das wird z.B. durch das Epitaph des Kanonikus Busnang in der Johanneskapelle des Straßburger Münsters bestätigt: Sein Autor, Nikolaus Gerhaerts von Leiden, hat zwar das in der Französischen Revolution abgemeißelte, in den Umrissen aber noch gut erkennbare Wappen in dasselbe Format gebracht wie den Kanonikus und die Madonna, aber eben doch durch den Ort der Anbringung dem Stifter ‚unter'- geordnet.
[19] Erwin Panofsky: Early Netherlandish Painting. Its Origin and Character, Cambridge MA 1953, S. 289ff.– Lorne Campbell: Renaissance Portraits. European Portrait Painting in the 14th, 15th and 16th Centuries, New Haven und London 1990. Die ‚bête noire' ist offensichtlich Panofsky. Man wird den ihm gemachten Vorwurf des Logozentrismus kaum aufrecht erhalten können, wenn man in einem Brief von 1955 liest: „... that at long last a number of literary historians have come to realize that, when it comes to Renaissance and Baroque literature, the interpretation of textual sources has to consider pictures and picture books just as we art historians must consult texts in order to interpret our visual material. In these periods, even more than in the Middle Ages, the maxim ut pictura poesis was really put into practice …".
[20] Z.B. S. 115: Eine „territoriale Genealogie" kann es nicht geben. Die „Tafel als Bildmedium" ist nicht jünger als das Wappenschild. S.119: Die Porträts wurden nicht deshalb mit Deckeln verschlossen, um sie als Reisegut vor Beschädigung zu schützen. Dürers mit Schiebedeckeln zu schließenden Bildnisse des Jakob Muffel und Hieronymus Holzschuher waren für das Nürnberger Rathaus bestimmt und sollten es nicht verlassen. Der Deckel schützte vor Beschädigungen, Fliegendreck usw. S. 120: Das französische Wort tableau heißt nicht Wappenschild. S. 126: Das Gesicht in Van Eycks Porträt des Goldschmieds de Leeuw im Wiener Kunsthistorischen Museum ist nicht frontal (wie etwa das Dürers im Münchner Selbstbildnis aus dem Jahr 1500), und es trifft nicht auf die nordalpinen Verhältnisse zu, dass bis Van Eyck alle Porträts Profilbildnisse gewesen seien. Die Formulierung auf S. 127, dass „das radikal physiognomische Bildnis ... die genealogische Bildnisserie endgültig aufbricht", ist in dieser Form nicht zutreffend. Unverständlich ist mir die Charakterisierung der Retabelrückseite von Rogers Polyptychon im Hospital zu Beaune mit dem Satz: „Aber die Farben dagegen entfesseln eine volltönende Rhetorik" (S. 131). Auch wundert es, wenn der Autor Dürers von Anfang an allgemein als misslungen erachteten Porträtstich des Erasmus als „den berühmten Kupferstich" einführt (S. 138).
[21] Robert Suckale: Zum Körper- und Wirklichkeitsverständnis der frühen niederländischen Maler, in: Klaus Schreiner u.a. (Hg.): Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München 2002, S. 271-297 [wiederabgedruckt in: Stil und Funktion. Ausgewählte Schriften zur Kunst des Mittelalters, hg. von Peter Schmidt und Gregor Wedekind, München und Berlin 2003, S. 473-499.
[22] Bilderfragen, S.317-331.
[23] Adolph Goldschmidt: Der Utrechtpsalter, in: Repertorium für Kunstwissenschaft, 15, 1892, S. 156-169.- Ders.: Der Albanipsalter in Hildesheim und seine Beziehung zur symbolischen Kirchensculptur des XII. Jahrhunderts, Berlin 1895.
[24] Bilderfragen, S. 271-283.
[25] Bilderfragen, S. 133-163.

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