[in: Fides – Theologia – Ecclesia. Festgabe für Ernst Ludwig Grasmück, hg. von Norbert Jung u.a. 2012 (Bamberger Theologische Studien 37), 199-215.]
St. Marien in Freiberg, eine
Predigthalle vor Luther, oder warum man den Kirchenbau um 1500 nicht ohne
Kenntnis der (Kirchen-)Geschichte verstehen kann
Die mitteleuropäische Architektur der sog. Spätgotik ist erst
spät zu architekturhistorischen Ehren gekommen. Die Geschichte ihrer
Rehabilitierung ist ein lehrreiches Kapitel der Fachhistoriographie. Solange
man an der gotischen Architektur vor allem ihr systematisches Denken
bewunderte, musste sich die Architektur der folgenden Jahrhunderteihre
Abqualifizierung als Spätgotik gefallen lassen. Ihre kontrastreichen, zuweilen
irregulär erscheinenden Formen, ihre partielle Ornamentfülle und die Neigung zu
optischen Effekten ließen sie als eine irrationale Abweichung vom rechten Pfad
architektonischer Logik erscheinen, so noch im Jahr 1901 bei dem bedeutenden
Architekturhistoriker Georg Dehio.[1] Erst kurz vor dem Ersten
Weltkrieg, einer Zeit, in der die junge Generation der Gesellschaft ihrer
Eltern flachen Rationalismus und Materialismus vorwarf und in einer
neoromantischen Haltung alle die Dinge aufzuwerten versuchte, die zuvor
verworfen worden waren, erfuhr auch die Spätgotik, insbesondere die Hallenkirche,
ihre Rehabilitierung: Als ‚Deutsche Sondergotik’ deklariert, wurde sie in der epochemachenden,
1913 publizierten Dissertation von Kurt Gerstenberg zum Ausdruck deutscher
Nationaleigenschaften, ja der deutschen „Seele“ bzw. der germanischen „Rasse“
erhoben. Mit ihr sei der „ursprünglich landfremde Stil“ der französischen Gotik
„verdeutscht“ worden; in ihr habe das „urdeutsche Raumgefühl“ seinen Ausdruck
gefunden. Es sei deshalb falsch, von Spätgotik zu reden, sondern besser von
„Deutscher Sondergotik“.[2]
Gerstenbergs Werk hat die Sicht auf
diese Architektur nachhaltiger beeinflusst als jemals ein anderes Buch. Zwar
sind seine Thesen inzwischen von vielen Kunsthistorikern kritisiert worden, so
zum Beispiel von Friedhelm Wilhelm Fischer, Hans Joachim Kunst und Norbert
Nußbaum. Auch wird der Begriff ‚Sondergotik‘ kaum noch gebraucht. Doch findet
man in der Mehrzahl der Texte auch noch der letzten Jahre zu diesem Thema immer
wieder Formulierungen wie „Verschleifen“, „malerischer Einheitsraum“ usw., die
letztlich auf Gerstenberg zurückgehen und ein Fortleben seiner Auffassung
signalisieren. Sie wirkt nachhaltiger, als man meint.
Seine Analyse fußt auf Wölfflins
Begriff des ‚Malerischen‘. Er schreibt: „Erst die Formulierung, die Wölfflin
dem Problem des Stils … gegeben hat, enthält die Möglichkeiten, eine Neuordnung
in den Stileinteilungen der Kunstgeschichte vorzunehmen, die eine
zusammenhängende Geschichte des Sehens ergeben, ohne dass hierbei
Qualitätsunterschiede mitsprächen. Hiernach erhebt sich ein linearer Stil erst
im Verlauf seiner Entwicklung zu reinster Erscheinungsform, untermischt sich
dann mit malerischen Stilelementen und setzt sich völlig in einen malerischen
Stil um, der aber wieder erst nach längerer Bahn seinen Zenith erreicht.“
Leider steht eine kritische Analyse der Wölfflinschen Lehre und ihrer z.T. fatalen
Wirkungen noch aus.[3]
Man hat sich von seiner Eloquenz blenden lassen und dabei übersehen, dass es
sich um blanken Irrationalismus handelt, der mit ideologiegeladenen Begriffen
wie Volk, Raum und Entwicklung operiert. Auch hierin ist Gerstenberg ein
gelehriger Schüler Wölfflins, der u.a. von der Kunst dieser Epoche gesagt hat:
„Es sind uralte Eigentümlichkeiten des germanischen Formgefühls, … in gewissem
Sinne ist dieser spätgotische Stil der deutsche Stil überhaupt.“[4]
Auffällig und zeittypisch ist der
Gebrauch von vagen Naturmetaphern, dafür zwei Zitate Gerstenbergs: „(es)…
stellt sich wesentlich ein Eindruck stark flutender, den Raum ohne feste
Richtungsbahnen durchziehender Bewegung ein“ und: ,,Erst dann, wenn die
Gurtbögen und Scheidbögen ausgeschaltet sind, bleiben die Rauminhalte der
Schiffe nicht mehr getrennt, sondern die Wasser schlagen zusammen.“[5]
Insbesondere gehört der Begriff des Raumes zu den Schlüsselwörtern‘, die damals
in Deutschland vielfältig irrationalistisch aufgeladen wurden.[6]
Eine ideologiekritische Geschichte dieses Begriffes wäre ein dringendes
Desiderat.
Die Folgen dieser Denkweise sind
einschneidend. Es wird nicht genau beschrieben und analysiert, was zu sehen
ist; der Blick gleitet vielmehr impressionistisch über die Phänomene hinweg.
Erst recht wird wenig gesagt über Materialien und Konstruktion, Zustand und
Restaurierungen. Die Auftraggeber und Funktionen kommen aus dem Blick. Was hier
zu sagen möglich ist, demonstriert die kürzlich erschienene Arbeit von Gerd
Weilandt über St. Sebald in Nürnberg.[7] Indirekte Folge ist, dass
es so wenige befriedigende Baumonographien gibt. Außerdem war bisher nach
meiner Kenntnis noch keiner dieser Bauten Gegenstand genauer Bauforschung.
Gerstenberg hat nicht nur die
Betrachtung der Bauten auf fatale Weise geprägt, sondern auch ihre
geschichtliche Einordnung. Für Gerstenberg (hat) „Die Sondergotik … dem
nationalen Denken und Fühlen zu seinem Recht verholfen.“ Mit ihr sei der
„ursprünglich landfremde Stil“ der französischen Gotik „verdeutscht“ worden; in
ihr habe das „urdeutsche Raumgefühl“ seinen Ausdruck, ja erst eigentlich zu
sich selbst gefunden. Sein Begriff der „Deutschen Sondergotik“ reiht sich ein
in die damals auch anderenorts in Deutschland um sich greifende Tendenz, einen
‚deutschen Sonderweg’ zu behaupten, was u.a. zur Folge hatte, dass man sich bei
der Behandlung dieser Epoche von den entsprechenden Forschungen in Europa
abkoppelte, so dass es auch den Wissenschaftlern in den Nachbarstaaten nicht
mehr notwendig schien, die Bauten in Deutschland zu beachten.[8]
Gerstenberg
stellt den Bautyp der Hallenkirche als Idealtypus der deutschen Architektur hin
und nimmt ihre Durchsetzung für das Bürgertum in Anspruch. Das aber ist
problematisch: Schaut man sich unter den Auftraggebern der Hallenkirchen
Mitteleuropas um, so werden viele seit dem 13. Jahrhundert Fürsten verdankt
(s.u.).
Überhaupt suggeriert er die
Geschlossenheit einer Epoche, die regional sehr vielfältig ist und erhebliche
historische Wandlungen durchgemacht hat. Zwar ist seine Kritik am Begriff der
Spätgotik bzw. überhaupt der biologisch-entwicklungsgeschichtlichen
Begrifflichkeit richtig und wichtig, aber mit dem Begriff der ‚Deutschen
Sondergotik‘ hat er den Teufel mit Beelzebub ausgetrieben. Denn schon die
Architektur am Rhein oder im norddeutschen Backsteingebiet sieht ganz anders
aus, als in den süddeutschen Zentren und ist eng mit derjenigen benachbarter
Länder verbunden. Man wird sich sogar fragen müssen, ob es zu rechtfertigen
ist, von einer „deutschen Architektur“ zu sprechen, weil Deutschland zu diesem Zeitpunkt
bereits in weitgehend eigenständige Territorialstaaten zerfallen war. Ebenso
ist zu fragen, ob seine These der Durchsetzung des „deutschen Raumgefühls“ erst
für die Zeit von 1350 bis 1530 zutrifft. Man könnte seine Kriterien ebenso gut
auf Kirchen der Zeit um 1300, wie die Katharinenkirche in Oppenheim oder
die Dominikanerkirche in Colmar
anwenden.
Eine weitere einschneidende Folge
seiner Sicht war, dass man die Vielfalt der Bautypen aus den Augen verlor. Das
ausschließliche Insistieren auf der Hallenkirche führte dazu, dass insbesondere
die Basiliken, aber auch die Kapellen, die Spitalkirchen usw. ausgeblendet bzw.
abgewertet wurden. Die zahlreichen mit Holztonnen gewölbten bzw. flach
gedeckten Kirchen kamen erst recht nicht in Betracht. Mit einem Mal galt ein
Dom wie der in Köln als „landfremd“, und Neubauten, für die man den basilikalen
Typus gewählt hatte, wie die Stadtkirche St. Nikolai in Lüneburg oder die
Benediktiner-Abtei St. Ulrich und Afra in Augsburg, als rückständig, ja als
‚undeutsch‘. Es kam überhaupt nicht mehr in den Sinn, dass es immer
verschiedene Bautypen nebeneinander gegeben hat, weil es ja auch verschiedene
Traditionen, Funktionen und Nutzer gab; ebenso wenig wurde beachtet, dass Stil
bewusst gehandhabt wurde, dass man also für unterschiedliche Aufgaben und
Bauteile verschiedene Formen wählte. Aufgrund dieser methodischen
Selbstbeschränkung wurde es schwierig, die für die Heilig Blut-Reliquie in der
Jakobskirche in Rothenburg ob der Tauber gewählte zierliche Kapellenarchitektur
als Werk desselben Baumeisters Nikolaus Eseler zu verstehen, wie die mit viel
voluminöseren Formen gestaltete Dinkelsbühler Georgskirche.[9] Man sah nicht, dass für den
Bau in Rothenburg der vom hl. Ludwig von Frankreich errichtete Glasschrein der
Sainte-Chapelle in Paris Typen-Vorbild war.
Bei näherer Betrachtung erweist
sich Gerstenbergs Text und ebenso die Literatur, die auf ihm fußt, teils als
nationalistisch, teils als pauschalisierend, vor allem aber als formalistisch
und gegenstandsfern. Aus den vielen in Deutschland während zweier Jahrhunderte
errichteten Hallenkirchen wurde ein Idealtypus herauspräpariert, die „deutsche
Halle“ schlechthin. Sie ist „bürgerlich“, „raumhaltig“ usw. Die konkreten
Entstehungsbedingungen und die Stellung eines jeden Baus in der Geschichte und
Kirchengeschichte, seine Auftraggeber und Architekten, ja die Gestalt und
Gestaltungsweise der Kirchen selbst, ihre Funktionen und speziellen
Anforderungen kamen aus dem Blick. Die Idee der „deutschen Halle“ wurde zur
Ideologie, die Vielfalt der historischen Wirklichkeit durch einen abstrakten
Idealtypus ersetzt. Aber gerade wegen der Griffigkeit der Formel wurde diese
Theorie zum Handbuchwissen, das nicht mehr aus den Köpfen zu vertreiben ist;
sie kam und kommt aber auch der weit verbreiteten Bereitschaft entgegen, sich wieder
nationalistischen und irrationalistischen Ideologien zu öffnen.
Zu berücksichtigen ist noch ein weiterer, die Sicht
fälschender Faktor: Der Protestantismus hat nach seinem Selbstverständnis die
um das Messopfer zentrierte Liturgie abgeschafft und den Gottesdienst auf das
Hören des ‚Wort Gottes’ umgestellt. Die Kanzel bilde nun den Mittelpunkt des
Gottesdienstes, nicht der Altar; das Hören des Wortes gelte mehr als der
Empfang oder gar die Verehrung des Altarsakramentes. Um die Kirchenspaltung zu
rechtfertigen, musste jedoch die vorangegangene Epoche angeschwärzt und als bibelfeindlich dargestellt werden: Demnach
habe man im Mittelalter nicht gepredigt, und wenn, dann nur lateinisch, man
habe sich vom biblischen Wort abgewandt, den Laien die Bibel in der
Volkssprache vorenthalten und sei unfähig zur Reform gewesen. Auf ihre Art hat
aber auch die katholisch geprägte Forschung zur Verzerrung des Bildes vom 15.
Jahrhundert beigetragen: Ihr galten das 12. und 13. Jahrhundert, ihre Heiligen
und Theologen sowie ihre Klosterkirchen und aufragenden Kathedralen als
klassisch, während die folgenden Zeiten als dekadent bewertet und
verantwortlich gemacht wurden für die Entstehung der Reformation. So verfiel
das 15. Jahrhundert aus unterschiedlichen Gründen bei beiden Konfessionen der
Verachtung.
Das Fach Kunstgeschichte hat zwar immer an der
überragenden Bedeutung dieser Zeit für die Entfaltung der Künste festgehalten,
dies jedoch viel mehr bezogen auf Malerei und Skulptur, weniger auf die Baukunst,
die ja immer in besonderem Maße Spiegel und Ausdruck der gesellschaftlichen
Verhältnisse ist.[10] Auch hat sie auf Grund
ihrer Fixierung auf die Idee des autonomen Kunstwerks und die einer ebenso
autonom verlaufenden Kunstgeschichte kaum die historischen und
kirchenhistorischen Fakten zur Kenntnis genommen. Sie ist damit hinter den von
Cornelius Gurlitt 1890 erreichten Stand der Erkenntnis zurückgefallen. Dass das
15. Jahrhundert mehr als die Zeit davor durch zahlreiche Reformbewegungen und
Reformbemühungen geprägt war, haben die Kunsthistoriker kaum beachtet, ebenso,
dass die Volkspredigt in keinem Jahrhundert zuvor einen solchen Aufschwung
genommen hat.
Ich möchte für eine andere Sehweise dieser Baukunst
plädieren und wähle mir dafür absichtlich einen späten Hallenbau, die
Marienkirche zu Freiberg in Sachsen. Doch werde ich mich aus Zeitgründen weder
um die Frage nach den Baumeistern kümmern, noch um die Baugeschichte, noch um
die stilgeschichtliche Einordnung:[11] Der um 1488-1501 entstandene
Bau ersetzt eine Basilika der Zeit um 1200, die ähnlich wie der Bamberger Dom
im Gebundenen System errichtet war; das heißt, dass ein fast quadratisches
Mittelschiffsjoch von je zwei quadratischen Seitenschiffsjochen flankiert wird.[12] Die Pfeiler waren sehr
mächtig, ebenso die Mauern und Gewölbe, die Kirche anscheinend recht dunkel.
Deshalb mag man der Nachricht kaum Glauben schenken, sie sei bei dem großen
Stadtbrand von 1484 vernichtet worden. Denn so mächtige Mauern und Gewölbe
halten dem Feuer stand, wie man ebenfalls am Bamberger Dom studieren kann, wo
über dem Fürstenportal noch heute die Obergaden-Mauern vom Brand im Jahre 1225
gerötet sind.
Letztlich waren es andere Gründe, die den Neubau
veranlassten. Im Jahre 1480 war die Pfarrkirche zum Kollegiatstift erhoben
worden. Treibende Kraft war der Wettiner Herzog Albrecht, der Erbauer der
Albrechtsburg in Meißen. Er nutzte die Chance des Brandes, um Volk und Klerus
die Notwendigkeit eines Neubaus plausibel zu machen und die Spendenbereitschaft
durch Besorgung reicher Ablässe und
offenkundige Übertreibung der Notlage zu mehren, eine das ganze Mittelalter über
nachweisbare Praxis. Freiberg war Residenzort, die Kirche diente auch dem
fürstlichen Hof, ebenso das Stiftskapitel[13]. Hinter den Stiftsherren
steht also der Herzog: Er war es, der eine „structura sumptuosa“, eine
aufwändige Architektur, wünschte und sie auch finanzieren konnte. Dass er dies
konnte, ist aus dem Reichtum der neuen Silberfunde in den Freiberger Bergwerken
zu erklären. Deren Einnahmen flossen zum großen Teil in des Herzogs Säckel.
Albrecht versuchte jedoch, die Baulast möglichst zu verteilen. Die Freiberger
Kirche ist also auch Hofkirche, und deshalb ist mit Hermann Meuche zu fragen,
ob die Einführung der Empore, die damals in Sachsen etwas Neues war, nicht mit
dieser Funktion zusammenhängt. Ich komme noch einmal darauf zurück.
Die alte These von der „Bürgerlichkeit“ der
Hallenkirche wird noch hinfälliger, wenn
man sich die anderen abgebrannten Pfarrkirchen Freibergs anschaut, deren
Wiederaufbau von den Bürgern allein finanziert werden musste: Sie sind allesamt
sehr bescheiden.[14]
Im übrigen werden nicht wenige Hallenkirchen Mitteleuropas vom 14. Jahrhundert
an fürstlichen Auftraggebern verdankt. Ich nenne nur einige Beispiele aus der
Wittelsbacher-Dynastie: Ludwig dem Bayern die Spitalkirche Ingolstadt, seinem
Neffen, Bischof Ludwig von Minden die Damenstiftskirche Obernkirchen bei
Bückeburg.[15]
Auf die Pfalzgrafen gehen die Neubauten der Heidelberger Hl.-Geist-Kirche und
der Martinskirche in Amberg zurück, auf Ludwig VII. den Gebarteten das
Ingolstädter Münster, auf die Herzöge von Niederbayern die Kirchen des Hanns
von Burghausen in Landshut und Straubing, auf die Herzöge von Oberbayern die
Münchner Liebfrauenkirche usw.
Die Fürsten bauten damals beständig ihre Macht in
ihren Territorien im Sinne des frühen Absolutismus gegen den Kaiser, den Adel
und die anderen Gesellschaftsgruppen aus. Die Einwirkung der sächsischen
Herzöge ist schon deshalb anzunehmen, weil sie wie die meisten und Reichsstände
eine Kirchenpolitik betrieben, die ihre Rechte über Klerus und Kirche
beharrlich verstärkte.[16] Zunächst rissen sie die
Pfründenvergabe und die Kontrolle der Finanzen an sich, dann das
Unterrichtswesen, und schließlich griffen sie auch in die Fragen klerikaler
Disziplin und Lebensführung ein. Deswegen finden wir sie auch an der Spitze der
Ordensreformen und anderer geistlicher Reformbemühungen. Selbstverständlich
mischten sie sich auch in alle Angelegenheiten des Kirchenbaus ein, der fast
ganz der Zuständigkeit des Klerus entglitt. Vom Zugriff auf den Kirchenbau war
es nur noch ein kleiner Schritt bis zur späteren Abtrennung des alten Chores
und seiner Umwidmung zum Mausoleum des albertinischen Zweiges der wettinischen
Dynastie. Es ist also legitim, die Freiberger Kirche als Hofkirche zu bezeichnen.
Sie ist als Hofkirche jedoch etwas Neues; denn hier wird der Fürst nicht vom
Volk getrennt, sondern feiert mit ihm gemeinsam Gottesdienst. Anscheinend soll
die neue Anordnung ein verändertes Gesellschaftsmodell zum Ausdruck bringen,
ein paternalistisches Verhältnis zu den Untertanen.
Man hat daraus noch eine weitere Konsequenz zu
ziehen: Es handelt sich bei der Freiberger Kirche und den ihr verwandten Bauten
streng genommen nicht um sächsische Baukunst im regionalen Sinne des Begriffs,
sondern um Baukunst in den albertinisch- wettinischen Territorien. Die Kirchen
im ernestinischen sachsen, im Erzbistum Magdeburg oder gar in Erfurt sehen
anders aus. Man kann also keine brauchbaren kunstgeographischen Aussagen machen,
ohne die reale politische Situation des Ortes und der Zeit zu berücksichtigen.
In den Quellen
wird der Neubau der Freiberger Kirche vornehmlich damit begründet, als Halle
für die Predigt gegen die „Häretiker in Böhmen“ benötigt wird. Dass dies noch
so spät im 15. Jahrhundert notwendig erschien, zeigt, wie weit verbreitet in
Deutschland hussitisches Gedankengut noch kurz vor der Reformation war und wie
sehr die hssitische Botschaft gefürchtet wurde.[17] Es fiel schwer, die
Kirchenkritik der Hussiten einzudämmen, denn es gelang ja auch kaum irgendwo,
die Missbräuche abzuschaffen, wie der Skandal um die gefälschten Wilsnacker
Bluthostien zeigt. Die hussitischen Lehren fanden insbesondere in den Nachbarländern
Böhmens fruchtbaren Boden.[18]
Als Hauptmittel zur Eindämmung der hussitischen Propaganda
galt die Predigt. Man stiftete an vielen Hauptkirchen eigene Predigerpfründen.[19] Dass sie nicht als etwas
Temporäres erachtet wurden, ist daran abzulesen, dass man die Kanzeln mit
großem Aufwand aus Stein und an prominenter Stelle errichtete. Die Kirchen wurden
entsprechend umzubauen. Die neue Freiberger Kirche war von vorneherein als
Predigthalle konzipiert, so groß, dass die gesamte Freiberger Bürgerschaft in
den Raum passte. Letztlich hatte sie damit im Verhältnis zur Bevölkerungszahl
eine Dimension bekommen wie zuvor nur die Kathedralen. Das sagt etwas über die
schwache Stellung des Diözesanbischofs in den Wettiner Landen aus, und
entspricht auch einem Trend: Denn es werden im 15. Jahrhundert keine neuen
Kathedralen mehr gebaut, und die unvollendeten blieben in der Regel liegen. Auf
die Kritik der Hussiten am Kunstluxus ging man in der Weise ein, dass ein
strenger, herber, nicht auf die Entfaltung sinnlicher Reize bedachter Stil
bevorzugt wurde. Diese Bemühungen um eine Reform der Kirche und der
Kirchenkunst machten sich die Fürsten zu eigen, so auch die Herzöge von
Sachsen. Vieles, was von den Auftraggebern und Funktionen her Hofkunst genannt
werden müsste, erweist sich zugleich als Kunst der Kirchenreform. Eine derartige
funktionale Neubestimmung des Kirchenraumes würde man jedoch eher neuzeitlich
nennen, nicht spätmittelalterlich. Jedenfalls leugnet die Behauptung, der
Freiberger Kirchenbau gehöre der spätesten Spätgotik an, seinen
Innovationscharakter.
Betrachten wir nun zunächst eingehend und aus der
Nähe den Freiberger Bau : Bezeichnend ist, dass er eigentlich nur ein Neubau
des Langhauses ist, das eingespannt wurde zwischen die alte Westfassade und den
Sanktuariumsbau der Jahre nach 1386. Der Raum ist im Gegensatz zum Vorgängerbau
eine Halle, zwar ebenfalls dreischiffig, doch sind die Seitenschiffe im
Verhältnis zum Mittelschiff breiter; sie sind keine Nebenräume mehr. Da die
Pfeiler sehr schmal sind, die Interkolumnien aber sehr breit, kann das Auge
ungehindert fast den ganzen Kirchenraum überblicken.[20] Es ist bezeichnend, dass
die thematisch bedeutsamen Figuren der Apostel nicht an den Pfeilern im
Mittelschiff stehen, sondern an den Wandvorlagen der Seiten. Die Raumgrenze ist
also nicht mehr die Mittelschiffswand bzw. die Reihe der Pfeiler in der Mitte,
sondern die Außenwand.[21]
Gerstenberg behauptet u.a.: „Das eigentlich
Charakteristische dieser Raumbewegung … ist das allgemein drängende,
richtungslos wogende“(52, s.a. 73 u. 114) und: „Im sondergotischen Hallenraum …
herrscht völlige Richtungsfreiheit.“ Der Freiberger Raum ist jedoch keineswegs
„richtungslos“. Man hat ihn vielmehr als eine Verbindung eines mittelachsialen,
auf das Allerheiligste ausgerichteten, von zwei Pfeilerreihen flankierten
Wege-Raumes zu begreifen . Diese Längsausrichtung wird überlagert von einer an
der Kanzel, dem zweiten Mittelpunkt der Kirche, orientierten
Zentralraumtendenz, die jedoch im Prinzip nachgeordnet bleibt. Das Überwiegen
der Longitudinaltendenz und die Mittelpunktfunktion des ehemals am Ostende des
Langhauses stehenden Altars mit seinem (verlorenen) Retabel drängte sich dem
Besucher schon dadurch auf, dass er die Kirche in der Regel durch den
Haupteingang im Westen betrat (und betritt), von wo auch die breite
Wendeltreppe auf die Empore führt.[22] Die Zentralraumtendenz
des Kirchenraumes wird hingegen vorherrschend, wenn man sich oben auf der
Empore befindet. Von dort aus gesehen ist die sog. Tulpenkanzel von 1505 der
Mittelpunkt des Raumes. Damit jeder den Prediger möglichst sieht und hört, ist
man bei der Konzeption dieser originellen wie rätselhaften Kanzel so weit
gegangen, dass man sie nicht – wie damals üblich – an einen der Pfeiler
anlehnte, sondern sie völlig frei und ohne Rückwand aufstellte, was mindestens
so ungewöhnlich ist wie das Thema dieses Werkes.[23]
Genau gegenüber hatten die Fürsten ihren Sitz;
deshalb kann man von einer zweiten quer liegenden, auf den Fürsten und seinen
Hof orientierten Mittelachse sprechen, die die Kanzel einbezog. Diese Mitte
wurde noch dadurch betont, dass der Ring-Schlussstein, im Volksmund Aufzugsloch
genannt, ungewöhnlicherweise in dieser Achse angebracht ist:[24] Durch ihn konnte man am
Himmelfahrtstag eine Christusstatue hochziehen oder am Pfingstfest
Blütenblätter als Erinnerung an die Herabkunft des Hl. Geistes herabwerfen.
Die Kombination von Zentral- und Längsraum wird in
der Gewölbefiguration durch die Anbringung querlaufender Scheitelrippen
zwischen Mittel- und Seitenschiffen unterstrichen. Diese zweite Mittelachse ist
zugleich Symmetrieachse zwischen dem westlichen und dem östlichen Langhaus.
Eine derartige Zentrierung und Symmetriebildung auch bei großen, sich über
mehrere Joche erstreckenden Räumen ist
typisch für Säle wie Hallen und kennzeichnet etwa die großen Hauptsäle in der
von Arnold von Westfalen konzipierten Albrechtsburg in Meißen.[25] Wie weit Besonderheiten
in der Aufstellung und Verzierung des Gestühls und in der Ausstattung der
Altäre mit Skulpturen und Gemälden diese Tendenz noch verstärkten, entzieht
sich bisher unserer Kenntnis. Die Bemalung des Gewölbes gibt keine Aufschlüsse,
da sie nur an wenigen minder wichtigen Stellen erhalten ist bzw. aufgedeckt
wurde. Immerhin ist in der Gewölbefiguration die Anbringung quer laufender
Scheitelrippen zwischen Mittel- und Seitenschiffen festzuhalten.
Der Entwurf der Gewölbefigur führt
also weder zu „Jochverschleifung“, noch zu „malerisch verschwimmenden Räumen“.
Denn die Jochgrenzen bleiben sichtbar, auch handelt es sich keineswegs um reine
Netzgewölbe.[26]
Entgegen Gerstenbergs These von der „Aufhebung der festen Grenzlinien des
Gurtbogens“ sind die Gurte in Freiberg gut erkennbar und nicht einmal
unterbrochen. Bezeichnend für die genau abgestufte Hierarchie der Formen ist,
dass sich in den anspruchslosesten Raumkompartimenten der Kirche, wie den
kleinen Seitenkapellen unter den Emporen, der gotische Gewölbe-Urtyp, das
vierteilige Kreuzrippengewölbe, findet. In den beiden Seitenschiffen und mehr
noch im Mittelschiff wird es bereichert und dadurch in seiner Erscheinung und
Wirkung gesteigert. Der Konstruktion nach ist das Gewölbe eine Längstonne mit
Stichkappen. Anders als bei früheren Bauten finden sich Schlusssteine auch auf
den Scheiteln der Gurtbögen. Sie unterstützen die Longitudinaltendenz. Der
Baumeister hat die Gewölbefiguration bereichert durch den Wechsel großer und
kleiner übereck gestellter Quadrate.
Das ist zwar kompliziert, aber
erkennbar und benennbar, keineswegs verschliffen. Diese kunstreiche Erfindung
rechnet mit einem kundigen Betrachter, der auch Unterschiede von nur wenigen Zentimetern
wahrnimmt, der die virtuose Polyphonie zu verstehen und zu schätzen weiß, und
der bemerkt und genießt, dass die Mittelschiffsgewölbe reicher sind als die der
Seitenschiffe. Wie oberflächlich und
unangemessen die gängige Betrachtungsweise ist, zeigt sich, wenn noch in den
neuesten Kirchenführern behauptet wird: die Gewölberippen hätten alle dasselbe
Profil. Zwar ist – verglichen mit manchen süddeutschen Bauten – in Freiberg die Tendenz zur Vereinfachung
der Formen bemerkenswert, doch wird genauem Vergleich wird deutlich, dass es
zwei klar unterscheidbare Typen von Rippen gibt: Die übergeordneten, die das
Netzgewölbe bedienen und die untergeordneten, die als Zwischenrippen und als
Träger der Jochteile zu verstehen sind. Sie sind eindeutig kleiner als die
Hauptrippen. Im Gewölbe sind also statische Kreuzrippen und dynamische
Netzgewölbe kombiniert. Analog sind die Rippen sowohl funktional konstruktive
Träger, als auch Schmuck.
Virtuosität und fast metallische
Präzision der Form sind auch Charakteristika der damaligen bildenden Kunst,
z.B. der Kupferstiche von Schongauer und Dürer, in deren Zeit dieser Neubau ja
fällt. Warum sollte es bei der Architektur anders sein? Wir tun gut daran,
keinen zu großen Unterschied im künstlerischen Empfinden zwischen den
figürlichen Künsten und der Baukunst zu machen. Auffälliger Zug der damaligen
Virtuosität ist es, wenn Formen zwei oder noch mehr Aussagen auf einmal
darzustellen versuchen. Man betrachte etwa die Dangolsheimer Madonna in Berlin:
die Gewandfalten und Kräusellocken sind ein üppiger Schmuck, sie sind
ausdrucksgeladen, und sie sind Bedeutungsträger, dies alles unauflösbar
miteinander vermengt und zugleich virtuos inszeniert. Analoges bemerken wir,
wenn wir die Bedeutung näher untersuchen; das Kind flüchtet sich vor den
vorhergesehenen Schrecken der Passion in den Schutz der Mutter, und es ist doch
zugleich ein verspieltes Baby. Trauer und Freude zugleich auszudrücken, scheint
uns eine Unmöglichkeit, aber es war eins der erklärten Ziele der alten Meister.
Analog ist die Architektur
einzuschätzen: sie ist dekorativ, expressiv, konstruktiv und bedeutungsgeladen
zugleich, und das in einer jeweils individuellen Mischung – und doch gibt es
einen gemeinsamen Kanon an Regeln. Alles auf einen einzigen Begriff zu bringen,
wie etwa Jantzens Diaphanie, ist falsch, aber ebenso falsch ist das moderne
Entweder-Oder– es muss heißen: „sowohl – als auch“.0
Beobachtungen am Bau selbst
bezeugen, wie überlegt abgestuft wurde: So ist die große Wendeltreppe, über die
der Zugang zu den Emporen erfolgt, ein primär funktionaler Raum und deshalb nur
mit sogenannten Zellengewölben versehen, d.h. einem kompliziert erscheinenden
Gebilde aus irregulär wirkenden Kappen. Diese Gewölbeform ist nach damaligem
Verständnis dem Rippengewölbe rangmäßig nachgeordnet, denn sie hat nur Grate,
nicht aber vom Gewölbemauerwerk abgesetzte profilierte Rippen, hat also weniger
Schmuckwert. Diese Rangstufung lässt
sich ebenso in der Albrechtsburg in Meißen belegen, aber auch z.B. in der
Danziger Marienkirche, deren Mittelschiff mit Rippen verziert ist, während die
Seitenschiffe nur Zellengewölbe haben.[27] Eine derartige
Unterscheidung ist jedoch bereits bei Bauten des 11./12. Jahrhunderts
festzustellen, wo plastisch geformte Rippen mehr als die unverzierten Grate
galten. [28]
Es gibt sogar Fälle, in denen die Seitenschiffe mit Kreuzgratgewölben, die
Mittelschiffe aber mit Kreuzrippengewölben eingedeckt wurden. Diese Art von
Rangabstufung darf als konstant beherzigte Regel der gotischen Architektur
gelten, bestimmt die architektonische Gestaltung jedoch weit darüber hinaus.
Wir trennen aufgrund unserer
latent vom Klassizismus dominierten Auffassung streng die architektonische Form
vom Ornament. Das mittelalterliche Verständnis von Ornament unterscheidet sich
von dem heutigen jedoch erheblich. Der Sprachgebrauch des biblischen
Schöpfungsberichtes: „Vollendet waren Himmel und Erde mit allem ihrem Schmuck“
und andere Passagen der Hl. Schrift geben uns den Schlüssel zum Verständnis
dieser eigentümlichen, heute so fremden Ornamentauffassung. Aus damaliger Sicht
wird erst durch den Schmuck ein Kunst- oder Bauwerk vollendet. Demnach ist
Bauschmuck nichts Nebensächliches, sondern Hauptsache. Der entscheidende
Unterschied zum Klassizismus ist, dass Säulen, Pilaster, Arkaden, Gewölberippen,
ja überhaupt alle architektonischen Gliederungen zum Bauschmuck gezählt werden,
sich also in ihrem Wesen nicht von dem kleinteiligen, applizierten Ornament,
wie Kartuschen, Blattwerk usw. unterscheiden. Entgegen der heutigen Trennung
tektonischer und ornamentaler Bestandteile galten beide zuvor sowohl als
Bauschmuck wie auch als funktional notwendig. Da bei der Baukunst der
Kunstcharakter betont wird, gilt für auch sie die Künstler-Regel, dass jedes
Werk mit künstlerischem Anspruch eine neue Erfindung zu sein habe. Hat man das
verstanden, so fällt es nicht schwer, die doppelte Aufgabe und Absicht der
damaligen Gewölbefigurationen zu begreifen: sie sind konstruktiv und dekorativ
zugleich! Diese Auffassung überwiegt bis zum 18. Jahrhundert, ein Grund mehr,
sich von der Epochenpolarisierung zu verabschieden.
Die Sockel der Mittelschiffs-Pfeiler sind achteckig.
Diese banal erscheinende Feststellung ist insofern von Gewicht, weil sie
deutlich macht, dass die reine geometrische bzw. stereometrische Form wie schon
in der Frühzeit der Gotik die Grundlage und das Ideal dieser Architektur ist,
d.h. dass sich der Architekt als Magister der Geometrie versteht. Geometrie wird
hier kunstreich, ja geradezu virtuos entfaltet und dabei verfremdet. [29] Die acht Seiten der
Pfeiler sind in einem genau eingehaltenen Krümmungsradius konkav gekehlt. Diese
Kehlung setzt mitten im Postament ein und sie ist im Vergleich zur
Glattflächigkeit der Achtecksockel als ein Mehr an Form zu verstehen. Vergleicht man dann diese Pfeiler mit
den korrespondierenden Strebepfeilerköpfen, so entdeckt man, dass dort die
Sockel der Vorlagen rund sind, ebenso bei den untergeordneten Stützen unter den
Emporen im Osten. Im Gegensatz zur klassischen Säulenordnung ist die Rundform
hier also nicht als die höherrangige, sondern als die hierarchisch
nachgeordnete Form gemeint. Die Säule wurde nicht so sehr als wichtige
symbolische, bedeutungs- und traditionsbeladene Architekturform empfunden, auch
nicht anthropomorph, sondern rein stereometrisch als Zylinder. Im
Formenverständnis des Baumeisters war die Rundform einfacher als die
achteckige, die glatte Wandfläche formärmer als die konkav gekehlte. Das wird
durch weitere Beobachtungen bestätigt. Zunächst fällt auf, dass die Postamente
der Mittelstützen höher sind als die der Vorlagen, was einen höheren Rang der
Mittelpfeiler erkennen lässt. Sodann sind sie vom Pfeilerschaft abgesetzt
durch eine Kehle und durch ineinander gesteckte Stäbe, in Anspielung auf die
klassische attische Basis, aber auch als ein Mehr an Schmuck. Bei den
Wandvorlagen hingegen wächst der Wandpfeilerkopf ohne Absatz aus dem Sockel.
Obendrein ist er einem halben Sechseck angenähert, wählt also die niedrigere
Polygonzahl, wobei nur zwei Seiten gekehlt sind. Er hat also eine schmuckärmere,
einfachere, demnach rangniedrigere Form. Mit dieser Gestaltung werden mehrere
Effekte auf einmal erreicht: Der Strebepfeiler wirkt mächtiger und stabiler als
die überaus schlanke Achteckstütze, er erscheint eher als Teil der
Konstruktion, die Stütze dagegen eher als Teil der Repräsentation. Jedenfalls
kann allein schon aus diesen wenigen Beobachtungen erschlossen werden, dass die
Bauglieder in ein System gebracht worden sind, das sich erkennen und benennen
lässt.
Die acht Seiten der Pfeiler sind in einem genau
eingehaltenen Krümmungsradius konkav gekehlt. Diese Kehlung ist im Vergleich
zur Glattflächigkeit der Achteck-Sockel als ein Mehr an Form zu verstehen.
Vergleicht man dann die Achteckpfeiler mit den korrespondierenden
Strebepfeilern, so entdeckt man, dass die Sockel der Vorlagen rund sind. Im
Gegensatz zur klassischen Säulenordnung ist die Rundform hier jedoch nicht als
die höherrangige, sondern als nachgeordnete Form gemeint. Das dürfte so zu
erklären sein, dass die Säule nicht so sehr als symbolische, bedeutungs- und
traditionsbeladene Form empfunden wurde, auch nicht anthropomorph, sondern rein
geometrisch, nach den Graden der Einfachheit abgestuft. Im Formverständnis des
Baumeisters war die Rundform einfacher als die achteckige, die glatte Wand formärmer
als die konkav gekehlte. [30]
Das wird durch weitere Beobachtungen bestätigt. Zunächst fällt auf, dass die
Sockel der Mittelstützen höher sind als die der Vorlagen, was den höheren Rang
der Mittelpfeiler und ihrer Formen erkennen lässt. Sodann sind die Sockel vom
Achteckpfeiler abgesetzt durch eine Kehle und durch ineinander gesteckte Stäbe,
beides in Anspielung auf die klassische attische Basis. Bei den Wandvorlagen
hingegen wächst der Wandpfeilerkopf ohne Absatz aus dem Sockel. Obendrein ist
er einem halben Sechseck angenähert, wählt also die niedrigere Polygonzahl,
wobei nur zwei Seiten gekehlt sind. Er hat eine einfachere, also rangniedrigere
Form. Mit dieser Gestaltung werden mehrere Effekte auf einmal erreicht: Der
Strebepfeiler wirkt mächtiger und stabiler als die überaus schlanke
Achteckstütze; er erscheint eher als Teil der Konstruktion, die Stütze dagegen
als Teil der Repräsentation.
Blicken wir nun in die Zone der Rippenanfänger, so
ist zu bemerken, dass es zwei Typen von Rippen gibt, die präzise zu
unterscheiden sind. Zuerst sieht man tiefer ansetzende Rippen, die auf einem
konsolartig aus den Kanten der Pfeiler herauskommenden Viertelkreis fußen und
ausschließlich die Netzfiguration bedienen, von der oben festgestellt wurde,
dass sie dynamischer und moderner, d.h. die höherrangige Form innerhalb des
Gewölbes sei. Die höher ansetzenden Rippen wachsen dagegen nicht aus den
Pfeilerkanten hervor, sondern stoßen unvermittelt in die Pfeilerflächen. Auch
fußen sie nicht auf konsolartigen Gebilden. Die nachgeordneten Elemente – man
könnte auch von einer 1. und 2. Ordnung sprechen – sind den einfacheren und
statischeren, und damit auch den zugleich altertümlicheren wie
konventionelleren Gewölbefiguren zugeordnet. Dies alles lässt sich leichter im
Bau selbst sehen als mit Worten beschreiben.
Die Analyse soll nicht weiter ausgedehnt und an
allen übrigen Teilen der Kirche durchexerziert werden. Wichtig ist zunächst die
Schlussfolgerung, dass dieser Baukunst eine künstlerische Denkweise zugrunde
liegt, die zwar nicht mehr mit derjenigen der gotischen Architekten des 13.
Jahrhunderts übereinstimmt, die aber aus ihr ein eigenes und genaues System
entwickelt hat, das gesehen und verstanden werden will. Sie rechnet mit einem
Auge, das nicht impressionistisch über alles hinweggleitet, sondern auch
Differenzen von 2 cm wahrnimmt. Sie rechnet vor allem mit einem kundigen
Betrachter, der nicht nur die künstlerischen Intentionen bemerkt, sondern z.B.
auch die Ähnlichkeiten mit der Meißener Albrechtsburg.
Einiges bleibt jedoch noch zu den eigentümlichen
Ausdrucksqualitäten dieser Bauformen zu sagen. Mit seinem sparsamen Repertoire
an Motiven hat der Baumeister Vieles erreicht: So ist der Gegensatz zwischen
dem geradseitigen Achtecksockel und den konkav ausgehöhlten Seiten der Stützen
darüber sehr signifikant: der Sockel drückt Festigkeit aus, die konkave Form
Schlankheit, Leichtigkeit, aber auch Askese. Bezeichnend ist nun, dass in den
Wandpfeilervorlagen die gerade Fläche des Pfeilersockels als ein Stück
ungegliederter und unverzierter Mauer ohne Unterbrechung in die Höhe gezogen
ist und somit stärkere Stabilität der Wandpfeiler suggeriert. Unten am Übergang
vom runden Sockel zur polygonalen Vorlage findet sich sogar ausnahmsweise ein
Stück einer Kugelkalotte, die einzige konvexe Form im ganzen Bau, die nun den
Kraftakt des Stützens sinnfällig zum Ausdruck bringt. Man sollte sich mit
Interpretationen dieser Ausdrucksqualitäten zwar zurückhalten; doch ist es
unübersehbar, dass dieser Stil ein asketisches Verhältnis zum Körper hat (und
empfiehlt), wogegen sich etwa die Barockarchitektur sinnlich und üppig
präsentiert.
Die Beobachtung, dass die
Achteck-Stützen repräsentativer gestaltet, ja regelrecht inszeniert werden,
offenbart einen anderen Mangel von Gerstenbergs Analysen, die Vernachlässigung
der Bedeutung. So liegt es nahe, die 14 Stützen der Freiberger Kirche nicht nur
als ehemalige Standorte der 12 von Christus und Maria angeführten Apostel zu
verstehen, sondern auch symbolisch auf das vom Apostel Paulus im Epheserbrief entwickelte Konzept der
Kirche als Gebäude, das auf den Stützen der Apostel ruht und auf den Mauern der
lebendigen Steine, d.h. den Gläubigen als den ‚lapides vivi’ (u.a. 1 Pet 2,5)
mit Christus als dem Schlussstein.[31] Außerdem bringen die
heute etwas beliebig in der Kirche verteilten Apostelstatuen auf ihren
Schriftbändern die zwölf Sätze des Glaubensbekenntnisses in Erinnerung und
ermahnen damit die Gläubigen, bei der einzig rechten katholischen Lehre zu
verbleiben.[32]
Bemerkenswert ist weiterhin, dass der Gedanke
des künftigen Jüngsten Gerichtes nicht durch eine Weltgerichtsdarstellung mit
Himmel und Hölle, d.h. mit süßen Verheißungen und schrecklichen Drohungen,
eingeschärft wird wie etwa im Ulmer Münster, sondern durch die gleichnishaft zu
verstehenden Statuen der Klugen und Törichten Jungfrauen, eine eigenartig milde
Weise, einen aufwühlenden Glaubenssatz lehrhaft, emotional und repräsentativ
zugleich zu vermitteln.[33]
Der schmuckreichste Teil der Freiberger Kirche ist
das alte Hauptportal des Vorgängerbaus, die Goldene Pforte von etwa 1230, auf
deren komplexe Programmatik und kunsthistorische Bedeutung hier nicht
eingegangen werden kann. Wahrscheinlich bildete sie den Westeingang des
Vorgängerbaus, doch ist das keineswegs gewiss. Daran dass sie versetzt worden
ist, besteht jedoch kein Zweifel. Doch was waren die Gründe, und was sagt uns
das über die Absichten der Auftraggeber des Neubaus? Das alte Portal wurde seit
seiner Versetzung Zugang zur Kirche vornehmlich für die Kanoniker. Gerade die
jüngste unter den an der Kirche angesiedelten geistlichen Institutionen erhielt
also den ältesten und ehrwürdigsten Teil in ihre Obhut, wenn man die noch
ältere Triumphkreuzgruppe ausnimmt.. Man darf diese Versetzung und
Neueinfassung allgemein als Beleg wachsenden historischen Sinnes und
zunehmender Beachtung der monumentalen Geschichtszeugen deuten.[34]
Im Gewände der Goldenen Pforte finden wir sehr
unterschiedlich geschmückte Säulen, unter anderem auch nach Art der
Kirchenpfeiler kannelierte. Obwohl dergleichen Formen seit der Spätantike keine
Seltenheit sind, hat man sich zu fragen, ob nicht bei den Freiberger
Kirchenpfeilern eine bewusste Anlehnung an das alte Portal vorliegt. Überhaupt
scheint mir diese Baukonzeption ein eigenartiges Geschichtsverständnis zu
offenbaren. Untersucht man die Beweggründe der vielen ‚Reformationen’, die im
Verlaufe des Mittelalters unternommen wurden, so werden fast alle von ihnen
weniger als Veränderung und Innovation, sondern als Wiederherstellung der
ursprünglichen Ordnung deklariert. Beim Anblick des so neuartig erscheinenden
Freiberger Kirchenbaus ist man zunächst geneigt zu bestreiten, dass hinter dem
Freiberger Architekturkonzept eine Orientierung an alter Architektur stehen
könnte. Allerdings muss man an derartige Fragen mit größter Umsicht herangehen,
da man im Mittelalter Dinge als ähnlich verstand, die wir nie so bezeichnen
würden, wie sich etwa an den Kopien des Hl. Grabes in Jerusalem oder der
Geburtskirche in Bethlehem zeigen lässt.[35]
Typengeschichtlich bemerkenswert ist vor allem das
Wiederaufgreifen der Emporen: Sie sind eine uralte, aus der Spätantike
stammende Einrichtung, u.a. als Platz für die Träger der Herrschaft gedacht
oder für die Frauen. Mit der zunehmenden Ausrichtung der Liturgie auf den
Hochaltar, der Segregation von Klerus und Laien sowie der wachsenden
Sakramentsverehrung gerieten sie im frühen 13. Jahrhundert außer Gebrauch.[36] Dass sie nun wieder
eingeführt werden, ist als Akt von großer Tragweite zu verstehen, weil damit
die Predigt aufgewertet und die Rolle der Laien in der liturgischen Feier im
Wesen verändert wurde.[37]
Insgesamt wird die Wirkung dieses Raumes geprägt
durch seine große Höhe, seine Transparenz und vor allem seine Helligkeit. Den
Kirchen dieser Epoche die Höhentendenz abzusprechen, ist eine der Verdrehungen
des Konzepts der „Sondergotik“.[38] Gerade durch die Betonung
der Horizontalen in den Geländern der sich um die Wandpfeiler verkröpfenden
Emporen wird die Senkrechte der Mittelschiffspfeiler in ihrer Wirkung
gesteigert, die Vorbilder des Heilig-Kreuz-Münsters in Schwäbisch-Gmünd und der
Lorenzkirche in Nürnberg noch überbietend.[39]
Die damaligen Wohnräume waren wegen der hohen Kosten
für Fensterglas, künstliche Beleuchtung sowie Heizung meist klein, niedrig und
dunkel. Für die daran gewöhnten Menschen waren deshalb so hohe und weite Räume
mit großen hellen Fenstern, wie die der Freiberger Kirche, höchst ungewöhnlich
und dürften sie allein schon als technische Leistung beeindruckt, in ihrer
Lichtfülle aber geradezu überwältigt haben. Das durch die Verglasung getönte,
silberhelle Licht gab diesem Raum, seinen Farben und dem früher sicher
reichlicher verwendeten Gold festlichen Glanz. Ihre theologische Begründung
fand es in der Bibel, zumal der Schilderung der Sancta Sanctorum, ##des Glanzes
der Himmelsstadt Jerusalem, sowie in der von den Theologen, insbesondere dem
sog. Dionysios Areopagita, herausgearbeiteten Lichtmetaphysik.
Dass diese Helligkeit nicht von allen gebilligt
wurde, belegt eine Bemerkung des bayerischen Geschichtsschreibers Aventin
(1477-1534): "Unsere Vorvorderen, die alten deutschen Christen, waren
fromme, geistlich gesonnene Leute;... wie das bekannte Sprichwort sagt: Die
Alten haben finstere Kirchen und lichte Herzen gehabt, jetzt haben wir schöne,
große, lichte, bemalte Kirchen, aber finstere Herzen...". Wir wissen, dass
dies z.T. ein falsches Bild der Kunstgeschichte ist, aber Aventin beruft sich
auf „die alten Zeugnisse, die in unseren Buchkammern noch vorhanden sind“.[40] Aber helle Kirchen wie
die in Freiberg sind für die protestantischen Kirchen zukunftsweisend, u.a.
weil sie die Lektüre erleichterten.
So betrachtet sind die Marienkirche in Freiberg und
vergleichbare Bauten in Sachsen und seinen Nachbarländern nicht Zeugnis
„Deutschen Raumgefühls“, sondern Dokumente der künstlerischen Umsetzung
kirchenreformerischer Bemühungen der sächsischen Herzöge am Vorabend der
Reformation.
Wie ist diese Baukunst nun
epochal einzuordnen? Gesehen vom Standpunkt der älteren Architektur fällt das
Neue der Raumbildung auf, die Umwandlung der Basilika in einen weiten Saal mit
zwei Reihen schlanker Stützen. Der Umgang mit den Architekturgliedern hingegen
orientiert sich an der gotischen Tradition, wie sie seit dem 12. Jahrhundert
ausgebildet wurde. Der Kirchenbau wirkt jedoch im Vergleich etwa mit dem Kölner
Dom sehr einfach und im Formenaufwand reduziert. Sieht man den Bau jedoch von
der späteren Architektur her und vergleicht ihn mit der Jesuitenkirche in
München oder der Bückeburger Hofkirche, so fragt man sich, warum man von einem
Epochenwandel sprechen soll? Wenn so wichtige Elemente wie die Raumanordnung,
die Gewölbe, die Durchfensterung, die Konstruktion usw. bleiben bzw. eng
verwandt sind und sogar das Ornament nur in den Motiven, nicht aber in den
Prinzipien abweicht – was ist damit gewonnen, das eine Gebäude als spätgotisch
und das andere als Renaissance zu definieren?
Die Lage
ist ähnlich in den Bildenden Künsten: Dort finden wir die absurde Situation
vor, dass die italienischen Meister des 15. Jahrhunderts als
Renaissance-Künstler gefeiert werden, ihre niederländischen Kollegen aber, von
denen sie so viel gelernt haben, weiter als ‚Spätgotiker‘ gelten. Das Dilemma
kann jedoch seit den Forschungen Rudolf Preimesbergers als gelöst gelten. Er
konnte nachweisen, dass Jan van Eyck, der große Bahnbrecher der
niederländischen Malerei, durchaus seine Kunst in Anlehnung an die Antike
umgewandelt habe, doch ging er nur von antiken Schriften aus, nicht von der
Kenntnis antiker Werke. Es handelt sich demnach auch nördlich der Alpen im
Wortsinn um eine Renaissance, eine Wiedergeburt. Deshalb scheint es mir am
zutreffendsten zu sein, den in Amerika gebräuchlichen Begriff der Northern
Renaissance zu übernehmen. Am Anfang dieser Epoche stünde in Mitteleuropa Peter
Parler, der Hofbaumeister Kaiser Karls IV. Die italienischen Formen wurden
aufgegriffen, weil der Humanismus die Antike als einzigen Lehrmeister und
Maßstab durchsetzte und die Kirche wie die Fürsten nach und nach für den neuen
Geschmack zu gewinnen vermochte, eine Veränderung, die fast nur auf den Bauschmuck
ausgerichtet war, denn konstruktiv, in der Überwölbung weiter Räume und der
Schaffung großer Fenster, waren und blieben die nordalpinen Baumeister die
Lehrmeister ihrer italienischen Kollegen und ihnen darin allemal überlegen.
Somit könnte man die meiste Architektur bis hin zu Balthasar Neumann als
latente Gotik definieren.
Letztlich
aber tragen derartige allgemeine Überlegungen nur wenig oder gar nichts zum
Verständnis der nordalpinen Kirchenbaukunst des 14. Bis 16. Jahrhunderts bei.
Meine Aufforderung lautet deshalb – abgesehen von schärferer Kritik an der
Architekturgeschichtsschreibung des letzten Jahrhunderts: Zurück zu den Bauten
selbst! Zurück zu den Quellen! Zurück zu den Fakten!
Das an Heinrich Wölfflins ‚Kunstgeschichtlichen
Grundbegriffen’ orientierte Konzept des „Malerischen“ erweist sich als fataler
Irrweg einer modernistischen Kunstanschauung, der der Sinn für das präzise
Erfassen und die konkrete Erscheinung der Form abhanden gekommen ist.[41] Man muss deshalb
versuchen, sich empirisch die hermeneutische Basis für das Verständnis dieser
Architektur zu schaffen.
der Kupferstiche von Schongauer und Dürer, in deren Zeit
dieser Neubau ja fällt. Warum sollte es bei der Architektur anders sein? Wir
tun gut daran, keinen zu großen Unterschied im künstlerischen Empfinden
zwischen den figürlichen Künsten und der Baukunst zu machen. Auffälliger Zug
der damaligen Virtuosität ist es, wenn Formen zwei oder noch mehr Aussagen auf
einmal darzustellen versuchen. Man betrachte etwa die Dangolsheimer Madonna in
Berlin: die Gewandfalten und Kräusellocken sind ein üppiger Schmuck, sie sind
ausdrucksgeladen, und sie sind Bedeutungsträger, dies alles unauflösbar
miteinander vermengt und zugleich virtuos inszeniert. Analoges bemerken wir,
wenn wir die Bedeutung näher untersuchen; das Kind flüchtet sich vor den
vorhergesehenen Schrecken der Passion in den Schutz der Mutter, und es ist doch
zugleich ein verspieltes Baby. Trauer und Freude zugleich auszudrücken, scheint
uns eine Unmöglichkeit, aber es war eins der erklärten Ziele der alten Meister.
Letztlich
aber tragen derartige allgemeine Überlegungen nur wenig oder gar nichts zum
Verständnis der nordalpinen Kirchenbaukunst des 14. Bis 16. Jahrhunderts bei.
Meine Aufforderung lautet deshalb – abgesehen von schärferer Kritik an der
Architekturgeschichtsschreibung des letzten Jahrhunderts: Zurück zu den Bauten
selbst! Zurück zu den Quellen! Zurück zu den Fakten!
Das an Heinrich Wölfflins ‚Kunstgeschichtlichen
Grundbegriffen’ orientierte Konzept des „Malerischen“ erweist sich als fataler
Irrweg einer modernistischen Kunstanschauung, der der Sinn für das präzise
Erfassen und die konkrete Erscheinung der Form abhanden gekommen ist.[42] Man muss deshalb
versuchen, sich empirisch die hermeneutische Basis für das Verständnis dieser
Architektur zu schaffen.
[1]
Dehio
und v. Bezold, Kirchliche
Baukunst, Bd. II, S. 315ff. Georg Dehio wird ziemlich polemisch, wenn er (S.
315) der damaligen Baukunst „einen unüberwindlichen Zug zur Mediokrität und
Trivialität“ und (S. 318) „hausbackene Plattheit oder spitzfindige Schnörkelei
... gelegentlich etwas Protzenhaftes“ bescheinigt. Doch hat er sein Verdikt in:
Dehio: Geschichte, Bd. II, S.
138ff. z.T. zurückgenommen. Befremdlich ist, warum der als Barockforscher so
berühmt gewordene Cornelius Gurlitt
mit seiner Arbeit: Kunst und Künstler am Vorabend der Reformation., in der er
die damalige Architektur in so vielen Punkten richtiger gesehen hat als die
anderen, erst recht die späteren Autoren, so wenig beachtet worden ist.
[2]
Gerstenberg: Sondergotik.
Widerspruch bei: Fischer; Kunst; Nussbaum, bes. S. 225ff. u. 313ff.; Binding; Philipp,
S. 14.
[3]
Gerstenberg, S. 4. Wölfflin war
seit 1929 (!) Mitglied in Alfred Rosenbergs „Kampfbund der deutschen Kultur“; s.
Neumann: Kultur in Thüringen, S.
133; Gerstenberg betätigt sich
früh auch als NS-Autor (s. Gerstenberg:
Riemenschneider. Auch ist nicht zu übersehen, dass einige der fanatischsten
NS-Kunsthistoriker seine Schüler waren, so z.B. Alfred Stange.
[4]
Gerstenberg, S. 6.
[5]
Gerstenberg, S. 50.
[7]
Weilandt.
[8]
Zeugnisse dafür, wie irrig die Kunsthistoriker jeweils de Baukunst der
jeweiligen Nachbarländer einschätzen, , finden sich z.B. bei Sesmat.
[9]
Helmberger.
[10]
Bei Gurlitt, S. 95 ein Beispiel
für die Mischfinanzierung eines Kirchenbaus dieser Zeit.
[11]
Zur Kirche in Freiberg s. Steche, S.
14-64.– Gurlitt, S. 30ff., 73ff.
u. 82ff.– Vor allem die Arbeiten von Magirius:
Forschungen 1972; Hallenkirchen 1977; Der Dom zu Freiberg 1977; Sakralbauten
2002, S. 208-241. Nussbaum, bes.
S. 281ff. u. 292ff.
[12]
Im Osten des Langhauses ist noch ein großes Stück aufgehenden Mauerwerks
erhalten, s. Magirius 2002, S. 212.
[14]
Magirius 2002.
[15]
Nach Gurlitt, S. 64f. hatten
Hallenkirchen schon immer primär den Charakter eines Predigtraumes.–
Unbefriedigend ist Boockmann.
[16]
Von der umfangreichen Literatur zu diesem Fragenkomplex seien nur zitiert: Schlesinger: Kirchengeschichte; Lobeck;
Smolinsky.
[17]
Über die hussitische Agitation s. Gurlitt,
S. 19ff. Jan Hus selbst berichtet in seinen Briefen, die er von der Reise zum Konstanzer Konzil an seine Anhänger
daheim schrieb, wie freundlich er in Nürnberg und in anderen Städten, die er
auf dem Weg besuchte, aufgenommen wurde. Seine Predigten fanden viele Zuhörer.
Über hussitische Söldner in den Diensten der sächsischen Herzöge, z.B. 1448 s. Gurlitt, S. 13, S. 28 über Freiberg als
Zentrum einer Gruppe von Schwärmern, die 1465 unter der Führung des
Franziskaners Livinus v. Wiersberg nach Eger auswanderten und mit denen sich
noch 1490 eine Provinzialsynode befasste.
[18]
Gurlitt, S. 13ff. über die Wirkung
der hussitischen Predigt in Sachsen s.a. Lobeck,
u.a. S. 46f.
[19]
Eine der ersten ist die 1426 am Dom zu Magdeburg für den berühmten Kanzelredner
Hinrich Tocke eingerichtete Pfründe; s. Biographisch-Bibliographisches
Kirchenlexikon XII, 1997, Sp. 286-288.– Zu Predigtkirchen s. Gurlitt, S. 64ff.– Man verfolgte jedoch
auch eine bestimmte Bildpolitik gegen die Abweichler; s. Schultes.
[20]
Die Kirche hatte zum Zeitpunkt der Reformation über 40 Altäre, die den Raum
füllten.
[21]
Nussbaum, S. 142ff.
[22]
Das Langhaus der Kirche hat noch vier weitere Türen, die meisten von ihnen
recht klein und außerdem von ungeklärter Funktion, s. Magirius 1977, S. 30f.
[23]
Magirius 1977, S. 34ff.; Kiesewetter, Siedel, Stuhr: Die
Tulpenkanzel im Dom zu Freiberg, Dresden 1995 (Arbeitsheft Landesamt für
Denkmalpflege 2).
[24]
Magirius 1977, Abb. 67. In der
Regel liegen sie weiter östlich oder – wenn sie primär als Öffnung für den
Lastenaufzug dienen, im Turmjoch. Allgemein s. Krause
und Tripps.
[26]
Ein reines Netzgewölbe nach Prager Vorbild befindet sich im Vorchorjoch.
[27]
Nussbaum, S. 257ff. u. 273ff.
[28]
Kimpel u. Suckale, S. 84ff., 111 und passim; s.a. Nussbaum, S. 358, Anm. 259. Bezeichnend
ist, dass der Remter des Dompropsteihauses ebenfalls mit Zellengewölben
ausgestattet wurde (Hoffmann, S.
58).
[29]
Werner Müller: Grundlagen gotischer Bautechnik, München 1990.
[30]
Wir wissen zu wenig Genaues über die Bau- und Werkmeister, weshalb ich auf die
Diskussion von Namen verzichte. Was der Bau uns verrät, ist, dass es sich um
einen Schüler des Erbauers der Meißener Albrechtsburg, Arnold von Westfalen
gehandelt haben muss. Vgl. Magirius 1977 (wie Anm. 5), S. 28ff.
[31]
Zur Verteilung der Figuren s. den Plan bei
Magirius 1977, S. 30. Allgemein s.
Reudenbach; Kimpel / Suckale, S.
24, 87f. und passim)
[32]
Vorbild dafür war vielleicht der Bildrzyklus in Kaiser Friedrichs III. Dom in
Wiener Neustadt.
[33]
Magirius 1977, S. 36ff.
[34]
Dafür gibt es einige Zeugnisse seit dem 13. Jh., so etwa die zahlreichen Zitate
nach den Naumburger und Meißener Figuren.
[36]
Außer in Frauenklosterkirchen, wo sie jedoch in der Regel einen anderen Platz
einnehmen.
[37] Man hat nur wenige Informationen
über die konkrete Nutzung von Emporen aus dieser Zeit, doch ist in der
Martinskirche in Amberg erkennbar, dass sie für die ‚höheren Kreise’ reserviert
waren. Lickes, Heinrich: Chorflankierende Oratorien und Herrschaftslogen des
späteren Mittelalters, Diss. Tübingen 1982.
[38]
Das 15. Jh. hat einige besonders steile Räume errichtet, so St. Ulrich und Afra
in Augsburg oder St. Nikolai in Lüneburg, aber auch Räume von großer absoluter
Höhe, wie St. Martin in Landshut.
[39]
Der Hinweis auf St. Lorenz bei Nussbaum (wie Anm. 2), S. 281.
[40]
Lexer Aventinus, S. 42f.; s.a. die
Klage des Chemnitzer Mönches Paul Niavis bei Gurlitt (wie Anm. 1), S. 130.
[41]
„Malerisch“ ist allenfalls der fließende Übergang von Licht und Schatten in den
Kehlungen. Blickt man in die Gewölbeansätze, so verschatten die weit
auskragenden Rippen zwar einige Gewölbezonen, treten in ihren Umrissen dadurch
nur umso linearer in Erscheinung. Geradezu virtuos wird dieser Kontrast
zwischen dem verschatteten Grund und den umso deutlicher vortretenden Flächen
und Umrissen der vegetabilen Elemente in der Tulpenkanzel gehandhabt.
[42]
„Malerisch“ ist allenfalls der fließende Übergang von Licht und Schatten in den
Kehlungen. Blickt man in die Gewölbeansätze, so verschatten die weit
auskragenden Rippen zwar einige Gewölbezonen, treten in ihren Umrissen dadurch
nur umso linearer in Erscheinung. Geradezu virtuos wird dieser Kontrast
zwischen dem verschatteten Grund und den umso deutlicher vortretenden Flächen
und Umrissen der vegetabilen Elemente in der Tulpenkanzel gehandhabt.
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