9.2.15



[Petra Schöner u.a. (Hg.): Artium conjunctio, Aufsätze für Dieter Wuttke, 2013 (SAECULA SPIRITALIA, 245-278.]

Dürers Stilwechsel um 1519

Albrecht Dürer war schon mit Luthers Lehren vertraut, ehe dieser durch den Thesenanschlag gegen den Ablasshandel am 31. Oktober 1517 mit einem Schlage berühmt wurde. Er lernte sie u.a. durch den Nürnberger Freundeskreis um Johannes Staupitz kennen, Luthers ehemaligen Prior im Augustiner-Eremitenkloster zu Erfurt.[1] Auch schickte ihm Kurfürst Friedrich der Weise Luthers neue Schriften zu.[2] Zeitweise war Dürer so ausschließlich in deren Lektüre vertieft, dass der holländische Maler Jan van Scorel, der 1519 nach Nürnberg kam, um bei ihm zu lernen, enttäuscht weiterzog.[3] Auch gibt es aus dieser Zeit kaum ein eindringlicheres Zeugnis für die Anteilnahme an Luthers Schicksal als Dürers verzweifelte Klage über dessen Verschwinden nach dem Reichstag zu Worms.[4] Diese und andere Nachrichten belegen hinreichend Dürers Anteilnahme an der Reformationsbewegung.
Doch bis heute ist umstritten, wie sich dies auf Dürers Kunst ausgewirkt hat. Die einen halten ihn für einen überzeugten Protestanten, die anderen behaupten, er sei wie sein Freund Willibald Pirckheimer in den Schoß der katholischen Kirche zurückgekehrt.[5] Die Vertreter der einen wie der anderen Meinung führen Werke des Meisters als Belege für ihre These an, teilweise dieselben, so den Holzschnitt des Abendmahls aus dem Jahre 1523, ein Bild, in dem ein Kelch auffällig isoliert auf dem Tisch steht (Abb.6): Wer in Dürer vor allem den Protestanten sah, berief sich auf die protestantische Forderung nach Gewährung des Laienkelchs, d.h. der Kommunion unter beiderlei Gestalt auch für Laien bzw. auf den Streit der Reformatoren um die Natur des Altarsakramentes. Ihre Gegner hingegen stellten fest, dass dieses Bild in nichts von der rechtgläubigen katholischen Auffassung abweicht, dass das Motiv des isolierten Kelches schon vor der Reformation geläufig war und der Stich vor dem Disput um das Abendmahl entstanden ist.[6] Auch die Deutung der beiden Tafeln mit den ‚Vier Aposteln‘  als Manifest protestantischer Gesinnung wurde bestritten: Ernst Heidrich konnte in ihnen keine antikatholischen Motive entdecken (Abb. 7). Im übrigen weisen die Vertreter der Auffassung, Dürer sei ein treuer Sohn der Kirche geblieben, auf seine Marien- und Heiligenbilder und die keineswegs nach Einführung der Reformation endende Tätigkeit für die Gegner Luthers, wie Kardinal Albrecht von Brandenburg.[7]
Doch wer Marien- und Heiligenbilder als ausschließlich katholisch einstuft, projiziert fälschlich die erst nach 1530 ausgebildete Konfessionsstruktur in die Entstehungszeit der Reformation. Dem widerspricht Martin Luthers marienfromme, im Jahre 1520 gedruckte Auslegung des Magnificat. Sie ist ein durchaus katholischer Text: selbst die kritischen Spitzen gegen Auswüchse der damaligen Marienfrömmigkeit würden von katholischer Seite akzeptiert werden können. Und die von Luther verehrten „liebenn heyligenn“ standen noch weit bis ins 17. Jahrhundert bei Lutheranern in Ansehen.[8]
Konfessionelle Eindeutigkeit ist in der Umbruchszeit um 1520 nicht zu erwarten. Doch bleibt es für Protestanten schwer verständlich, warum sich Dürer gerade in diesen Jahren so ausgiebig mit Darstellungsvarianten des hl. Christophorus beschäftigt hat (Abb. 1-3), der nicht einmal ein historisch verbürgter Heiliger ist, sondern – im Gegenteil – ein besonders apokrypher: Seine Legende und riesenhafte Gestalt gehören dem Reich der Sage an, und sein Kult als Schutzheiliger vor einem plötzlichen Tod ohne Sakramentenempfang hat abergläubische Züge. Erasmus hat sich über seine Verehrer in den ΜΩΡΙΑΣ ΕΓΚΩΜΙΟΝ sive laus stultitiae‘ (Lob der Torheit) lustig gemacht und mit ihm sein Illustrator Hans Holbein d.J.[9] Doch Dürer übernahm diese Meinung des ihm sonst so wichtigen Gelehrten nicht.[10]
Lässt sich eine Erklärung finden? Ich meine ja! Hierzu bedarf es jedoch der Einbeziehung aller Aspekte von Dürers Kunst. Ehe wir auf diesem Wege weitergehen, muss man sich klar machen, dass die Hauptbeschäftigung des Künstlers in den Jahren der beginnenden Reformation die Abfassung seiner Schriften zur Kunst der Messung, zur Proportion und zur Kunsttheorie war.[11] Man hat also die Bilder dieser Jahre immer auch daraufhin zu befragen, in welchem Verhältnis sie zu Dürers theoretischen Überlegungen stehen.
Die Aufreihung von neun verschiedenen Christophorusfiguren im Berliner Blatt von 1521 bleibt zunächst rätselhaft. Hinzu kommen aus dieser Zeit noch zwei Stiche und drei Zeichnungen desselben Themas (Abb. 2, 3) [12] und „4 Christoffel auff graw papir“, die Dürer laut eigener Aussage in Antwerpen im Jahre 1521 für den Landschaftsmaler Joachim Patinier gezeichnet hat. [13] Von anderen Heiligen gibt es von Dürer aus dieser Zeit kaum ein Bild. Es ist also nicht übergroße Nachfrage oder Treue zur katholischen Kirche gewesen, die den Künstler veranlasst haben, so viele Bilder desselben Heiligen anzufertigen, zumal man damals Christophorusdarstellungen an jeder Straßenecke und in beinahe jedem Haus sah.[14] Es gibt keinerlei Hinweise auf eine Steigerung seines Kultes in diesen Jahren; eher trifft das Gegenteil zu (s.o.).
Stutzig machen sollte, dass Dürer für die Graphiken nicht, wie bei Andachtsbildern sonst üblich – und wie bei seinen älteren Christophorusbildern – das billigere und schlichtere Medium des Holzschnitts wählte, sondern den feineren – und zudem eigenhändigen – Kupferstich, den er für seine intellektuell anspruchsvollsten Erfindungen bevorzugte.[15] Der Lösung des Rätsels näher bringt uns die Beobachtung, dass es in der Kunstgeschichte einige vergleichbare Bildreihen gibt; am bekanntesten ist wohl die Folge von Radierungen Gian Domenico Tiepolos zum Thema der Flucht nach Ägypten.[16] Es handelt sich um eine dem musikalischen Typus der Fuge vergleichbare Demonstration des Einfallsreichtums und der Erfindungskraft des Künstlers. Gefördert wurde diese Einstellung durch die seit Augustinus‘ christlicher Rhetoriklehre De doctrina Christiana wachsende Bedeutung der Erfindung (inventio).[17]
Mit der Rhetorik haben sich Dürer, Pirckheimer und ihr Freundeskreis ausgiebig befasst.[18] Mir scheint Insbesondere eine Schrift des Erasmus, De duplici copia verborum et rerum, von Bedeutung zu sein.[19] In ihr zeigt er, welche Fülle von Ausdrucksweisen der Redner zur Verfügung hat und wie er seine Rede bereichern und variieren kann. Dürer war durch Pirckheimer mit Erasmus‘ Lehren wohlvertraut. Die Anregung, die von diesem Buch ausging, lag jedoch nicht im Was, sondern im Wie. Dürers Christophorus-Blätter sind  als bildliches Exerzitium zu diesem Text zu deuten.
Dürer hat über die gottähnliche künstlerische Schöpferkraft gesagt: “Dan ein guter maler ist jndwendig voller vigur“.[20] Man könnte diesen Satz als Unterschrift für das Berliner Blatt nehmen. Sein Ziel war, die große Zahl der Darstellungsmöglichkeiten des Heiligen zu zeigen und zugleich die Fülle von Bildern, die der Phantasie des Künstlers entströmen – denn nach der Natur sind sie nicht gearbeitet.
Das Christophorus-Thema eignete sich dafür besonders gut, weil der Heilige eine sich bewegende und zugleich eine innerlich bewegte Person ist: Die Legende schildert ihn als einen Riesen mit außerordentlichen Kräften, der an einem Fluss lebte und dort Leute, die den Strom überqueren wollten, ohne Lohn zu Ehren Christi auf den Schultern von einem Ufer zum anderen trug.[21] Einmal wurde er mitten in der Nacht von einem Kind gerufen, er solle es hinüber tragen. Je weiter der Träger vorankam, desto schwerer wurde das Kind, und das Wasser begann immer mehr zu steigen, so dass Christoph die größten Mühen hatte und meinte, die Last der ganzen Welt auf den Schultern tragen zu müssen. Als er sich zu ängstigen begann, offenbarte sich ihm das Kind als Christus und Schöpfer des Universums.
Bei genauerer Untersuchung des Berliner Blattes reduziert sich die Vielfalt der Erfindungen: Figur 1 und 3 in der oberen Reihe sind teilweise gespiegelt, ebenso Figur 7 und 8 in der unteren; das Gehmotiv der Figur 1 wird in der Londoner Zeichnung (Winkler 801) aufgegriffen. Der Stich Abb. 2 und die Figur 8 in der unteren Reihe sind nah verwandt. Es handelt sich keineswegs nur um Variationen der Form, sondern auch des Themas: Figur 1 und 3 stellen vor allem die entschlossen ausgreifende Bewegung dar, also das Aktive, Figur 6 und 9 hingegen die Mühsal des Tragens, d.h. das Passive. An der 6. Figur ist ungewöhnlich, dass der Träger sich mit einem Arm auf das Knie stützt. Noch bemerkenswerter ist die 9., am flüchtigsten skizzierte, wohl erst nachträglich eingefügte Gestalt: Ihre Beine sind gespreizt, der Körper geknickt, der rechte Arm weit ausgreifend und einen Halt suchend, der Kopf hilfesuchend nach oben gedreht. Diese Haltung geht auf eine antike Pathosformel zurück, den sog. Sterbenden Gallier, die der Künstler bereits 1494 in seiner Zeichnung Der Tod des Orpheus verarbeitet hatte.[22] Sie bezeugt Dürers beständigen Dialog mit den italienischen Meistern und ihren antiken Vorbildern.
Auch die beiden gleich großen Kupferstiche sind unterschiedlich aufgefasst: Der Stich Abb.2 ist in stärkerem Maße eine Erzählung: Er stellt dar, wie der Heilige kräftig ausschreitet, dabei seinen Stab mit Energie nach vorne setzt, so dass auch der Umhang schwungvoll nach vorne fliegt – er zeigt ihn als energisch und entschlossen losmarschiernden Christusträger. Der andere Stich betont, wie der Heilige unter der Last leidet und kaum voran kommt. Deutlich sind die angespannten Muskeln der Beine und der kräftige Griff der Hände zu sehen, den Baumstamm braucht er nur zur Stützung. Der Rücken knickt ein. Deshalb fliegen auch keine Gewandzipfel auf. Fragend blickt er zum Christuskind empor, das tröstend und segnend die Rechte auf seine Stirn legt. Der voranschreitende Christoph – wohl das zuerst entstandene Blatt – erzählt eher das Ereignis der Flussüberquerung, das jüngere Bild stellt eher den Heiligen als Vorbild des Glaubens vor: Das Christuskind und sein Träger sind in die Mitte gerückt und eher statisch gegeben – wie bei Heiligenbildern üblich – der für eine Erzählung relevante Einsiedler, der am Ufer mit seiner Fackel die Szene beleuchtet, und viele Einzelheiten sind weggelassen. Das vordere Ufer ist gar nicht angegeben, die Landschaft vereinfacht und der Horizont tiefer gelegt, so dass der Heilige ihn stärker überragt und auf diese Weise monumentaler und zugleich sakraler wirkt. Vor allem ist die Figur einfacher gestaltet; dies wird u.a. am Ärmel erkennbar, der das Antlitz des Riesen und das Kind zusammenschließt.
Diese Bilder haben anscheinend nichts mit der Reformation zu tun. Doch fallen der Ernst und die Einfachheit der Form als etwas bei Dürer Neues auf. Zu fragen ist, ob sich Analoges zu dieser Zeit auch bei Bildern anderer Thematik nachweisen lässt?
                                                         xxx
Bildwerke und Bilder Mariens waren immer schon Gegenstand innigster Verehrung. seit dem 12. Jahrhundert wurden sie Träger einer zunehmenden Fülle von theologischen Aussagen: Mit Hilfe der Darstellung von Körper und Gewandung, Gesten und Haltung, Gesichtsausdruck und Farben, Schmuckstücken und anderen Accessoires, Inschriften und Symbolen wurde zum Ausdruck gebracht, dass Maria in paradoxer, kaum zu verstehender Weise zugleich Jungfrau und Mutter, Geschöpf Gottes und Gottesmutter ist, die neue Eva, aber von aller Sündenschuld von Anfang an frei, Miterlöserin der Menschheit durch das Übermaß ihres Miterleidens, allzeit unbefleckte Königin des Himmels und der Engel, einzigartig und seit der Schöpfung auserwählt in ihrer Rolle als Fürbitterin der Menschheit, und doch nur Ehefrau des einfachen Zimmermanns Josef von Nazareth, sich selbst erniedrigend als Magd zu allen Diensten im Alltag eines Handwerkers und doch beständig in der Kontemplation Gottes verweilend, überaus schön und weise, der demütigste und tugendreichste Mensch der Welt usw.[23]
Dürer hat sehr viele Marienbilder geschaffen. Schon seine allerersten Zeichnungen demonstrieren, dass er eine Vielfalt von Bedeutungen in einem Bild unterzubringen vermochte.[24] In den ersten Jahren seiner Meisterschaft schuf er Zeichnungen, wie ‚Maria mit den vielen Tieren‘, und Tafelgemälde, wie das Rosenkranzbild in der Prager Nationalgalerie, die an Bedeutungsfülle kaum zu überbieten sind.[25] Doch finden sich daneben von Anfang an auch einfachere, meist kleinformatige Stiche dieses Themas sowie Tafeln von ikonenhafter Verknappung.
Auch bei diesem Thema lässt sich um 1519 ein Wandel feststellen. Aus dem Jahre 1518 stammen der Kupferstich SMS [Anm. 1] I, Nr. 84[26] und der Holzschnitt SMS II, Nr. 248 - bei beiden wird Maria von Engeln bekrönt (Abb.4). Im Jahre 1519 entstand der Kupferstich SMS I, Nr. 86 mit der ihr Kind stillenden Maria (Abb.5), im Jahre 1520 die Stiche SMS I, Nr. 91 und 92. Zu erwähnen sind noch die 1521 einsetzenden Studien für eine große Marientafel nach Art einer italienischen sacra conversazione, die jedoch nie über das Stadium einzelner Naturstudien hinausgelangte.[27] Aus den letzten sieben Jahren seines Lebens ist kein Bild der Muttergottes mit dem Kind von Dürer erhalten.
Die drei jüngeren Stiche von 1519 und 1520 hat der Künstler auf der niederländischen Reise als „die drei neuen Marien“ erwähnt und zusammen weggegeben.[28] Offenbar wollte er wie bei den Christophorusblättern seine Kunst und das heißt vor allem seine Erfindungskraft demonstrieren. Hingegen wird das Blatt von 1518 in seinem Tagebuch bzw. anderenorts nie erwähnt, obwohl es der populärste seiner Marien-Stiche war, wie die 13 bisher nachgewiesenen Nachstiche bezeugen. Offenbar entsprach es schon bald nach der Vollendung nicht mehr seinen Vorstellungen.
Vergleicht man die Stiche von 1518 und 1519 (Abb. 4, 5), so überrascht das Ausmaß der Unterschiede: Im älteren Blatt ist die Muttergottes in eine Welt-Landschaft gesetzt, als Hinweis auf ihre Qualität als Königin des Himmels und der Engel, was durch den kronenhaltenden Engel über ihr noch verdeutlicht wird.[29] Der geflochtene Zaun und die Rasenbank verweisen auf den hortus conclusus (Cant 4,12), d.h. den beschlossenen Garten als Sinnbild der unverletzten Jungfräulichkeit der Gottesbraut und Maria. Dieser Garten ist angefüllt mit Marienblumen und –tieren, zudem mit anderen bedeutsamen Motiven und Baulichkeiten, die sich in der Regel auf die zahllosen Ehrentitel Mariens beziehen, wie sie u.a. in der Lauretanischen Litanei kodifiziert sind.[30] Die Gottesmutter hat als Zeichen ihrer Jungfräulichkeit ungebundenes langes Haar, als das ihrer mystischen Brautschaft mit Christus eine Brautkrone. Der Apfel in ihrer rechten Hand kennzeichnet sie als Neue Eva und Miterlöserin. Die Tracht ist jedoch die einer verheirateten Frau; das Kind greift ihr in den Ausschnitt, um an die Mutterbrust zu gelangen, was als Hinweis auf die Zwei Naturen Christi verstanden wurde. Maria zeigt vorahnungsvoll auf den Fuß ihres Sohnes, der dereinst von einem Nagel durchbohrt werden wird; deshalb auch ihr trauriger Gesichtsausdruck.[31]
Gegenüber dieser Fülle thematischer Aspekte nimmt sich das jüngere Marienbild (Abb.5) geradezu bedeutungsarm aus. Keins der sinnbefrachteten Motive des älteren Stiches ist aufgegriffen. Das landschaftliche Rahmenwerk ist fast verschwunden; nur die Rasenbank ist geblieben, doch so reduziert, dass man sie kaum noch als Teil eines hortus conclusus erkennt, sondern nur als schlichte Sitzgelegenheit. Hier sieht man weder die Königin des Himmels, noch die Neue Eva, auch keinerlei Andeutung einer Vorahnung der Passion, sondern nur Maria als die demütige Magd des Herrn, als die sie sich im Magnificat bezeichnet (Lc 1,48). Es bedarf der beiden Nimben, um die Mutter und ihr Kind als Maria und das Jesuskind zu erkennen. Dürer versucht gar nicht erst, die Paradoxien der Mariologie darzustellen, sondern entschließt sich zu einer radikalen Vereinfachung. Was die Figur an Bedeutungen verloren hat, hat sie an Wärme und menschlicher Nähe gewonnen.
Maria präsentiert weder sich noch ihren Sohn dem Betrachter, sondern ist ganz ihrem Kind zugewandt, auf das Stillen konzentriert: Im älteren Stich sind Mutter und Kind in traditioneller Weise im Halbprofil dargestellt; d.h. sie wenden sich sowohl einander wie dem Betrachter zu, wodurch jedoch die ungeteilte Aufmerksamkeit der beiden füreinander gestört wird und obendrein ein unnatürliches Verhältnis von Mutter und Kind entsteht, aber auch der Betrachter nur eine geteilte Zuwendung erfährt: Denn im wirklichen Leben schauen Mütter und Kinder einander an, oder sie wenden sich beide (bzw. einer allein) dem Gegenüber zu. Die vor allem in der gotischen Kunst beinahe zur Norm gewordene Bildkonvention des Halb- bzw. Drei-Viertel-Profils[32] wird von Dürer in diesem und anderen Bildern aufgegeben – dem Anschein nach nur ein kleines Detail, in Wirklichkeit aber eine grundsätzliche Veränderung des Verhältnisses von Bild und Betrachter – die Distanz zwischen beiden wird stärker.[33] Dieser Wandel der Bildauffassung ist in seiner Tragweite in der Dürer-Literatur bisher nicht angemessen gewürdigt worden.
                                                         xxx
Die Forderung nach Rückkehr zur Einfachheit erhob als erster Erasmus von Rotterdam.[34] In seiner im Jahre 1518 erschienenen Methodenlehre zur Auslegung der Hl. Schrift, die schnell Aufsehen erregte und zu heftigen Reaktionen seitens der Scholastiker und der Bettelorden führte, beklagt er die Spitzfindigkeit der scholastischen Bibelausleger, ihre weithergeholten Argumente, ihren Schwulst, und er setzt ihnen in knapper Diktion die These entgegen: “… die Redeweise der Wahrheit [ist] einfach. Nichts aber ist einfacher und wahrer als Christus.“[35]
Luther hat die Ideen des Erasmus radikalisiert. Er gelangte zur Überzeugung, dass die Kirchengeschichte nichts anderes sei als eine Geschichte unautorisierter Zufügungen der Papstkirche, ja der teuflischen Verfälschung der ursprünglichen Wahrheit .[36] Die Reformatoren wollten die Einfachheit und Schlichtheit des frühen Christentums wiedergewinnen; sie wandten sich vom weltlichen Prunk der Papstkirche ab und ihrer Verformung der Religion durch das Kirchenrecht.[37]
Hierin treffen sich Luther und Dürer: Denn auch Dürer war überzeugt, dass die Griechen und Römer der Antike bereits die hohe Kunst praktisch wie theoretisch beherrscht hätten, dass dies Wissen und Können aber verloren gegangen sei, bis sie in Italien seit Giotto ‚wiedererwachsen‘ seien:
„In was eren und wirden aber dise künst bey den Kriechen und Römern gewest ist, zeygen die alten bücher gnugsam an. Wiewoll sie nachfolgent gar verloren und ob tausend jaren verborgen gewest und erst in zweyhundert jaren wider durch die Walhen an tag gebracht ist worden. Dann gar leychtiglich verlieren sich die künst, aber schwerlich und durch lange zeyt werden sie wider erfunden.[38]
Deshalb fiel es ihm nicht schwer, sich Luthers These anzuschließen, dass die ursprüngliche Einfachheit und Schlichtheit der apostolischen Zeit verloren gegangen sei und das Wort Gottes durch Zusätze der Theologen verfälscht wurde. Deshalb machte er die radikale Vereinfachung sowie das Entfernen aller unnatürlichen und überflüssigen Formen und Farben aus der Kunst zur Maxime. Willibald Pirckheimer hat dies in der Gedächtnisinschrift, die er in seiner Bibliothek nach dem Tode des Freundes anbrachte, deutlich ausgedrückt: „[Dürer], qui … rem pictoriam … ad severitatem restrinxit (der die Malerei zur Strenge zurückführte).[39] Der Stilwechsel Dürers erklärt sich also nicht aus einer neuen Thematik, ebenso wenig aus neuen Formstudien. Vielmehr ist er als Gesinnungswandel zu bezeichnen.
                                                         xxx
In seinem Traktat Von der heiligen Messe (1520) schreibt Luther über die Einsetzung des Messopfers durch Christus:
„Dan do Christus selbst - und am ersten – diß sacrament einsetzt unnd die ersten meß hielt und übet, da war keyn platten, kein casell, kein singen, kein prangen, ßondern allein dancksagung gottis und des sacraments prauch. Derselben einfeltickeit nach hielten die Apostel und alle Christen meß ein lang tzeyt. Biß das sich erhuben die mancherley weyßen und zusetze, das anders die Romischen, anders die Kriechen meß hielten… woellen wir recht meß halten und verstahn, ßo mussen wir alles faren lassen, was die augen und alle synn in dißem handel mugen zeygen und antragen, es sey kleyd, klang, gesang, tzierd, gepett, tragen, heben, legen oder waß Da geschehen mag yn der meß…“[40]
Diesen Forderungen entspricht Dürers Holzschnitt des Abendmahls von 1523 (Abb.6).[41] Im kahlen Raum ist nichts überflüssig. Alles, was im Bilde zu sehen ist, hat Bedeutung. Dürer setzt sich von der traditionellen Ikonographie ab. Anders als die älteren Künstler hält er sich auffällig genau an die Schilderung des Johannes-Evangeliums (Io 13-17).[42] Dort wird berichtet, dass Jesus zuerst zum Zeichen seiner Demut den Jüngern die Füße wusch (Io 13,5-12). Dies wird durch die große, flache Schale auf dem Fußboden angedeutet. Einige Forscher sehen in ihr die Schüssel, auf der das Passah-Lamm serviert worden sei; doch stellen Jean Wirth und Pierre Vaisse zu Recht fest: „on aurait de la peine à trouver une représentation de la Cène où l’on aurait dégarni la table en posant un plat par terre, avec ou sans restes de la viande.“[43]
Auf die Fußwaschung folgt das Passah-Mahl und die Ankündigung des Verrats (Io 13, 21-31). Das wird im Bild durch die Abwesenheit des Judas Ischariot dargestellt, der den Saal verließ, nachdem ihn Jesus durch Überreichung des in Wein getauchten Bissens als Verräter gekennzeichnet hatte (Io 13,26-31). Dass die Mahlzeit vorbei ist, sieht man auch daran, dass ein Jünger links noch seinen Teller in der Hand hält und sein Nachbar gedankenverloren mit dem Messer Krümel vom Tisch aufpickt. Die optische Präsenz des Kelches und des auf dem Boden abgestellten Brotkorbs sowie der Weinkanne legen jedoch nahe, in ihnen auch Hinweise auf Brot und Wein des Altarsakraments zu sehen. Doch das eigentliche Thema des Bildes sind die Abschiedsreden Jesu, deren dunkle Andeutungen über die Zukunft die Jünger beunruhigten und einige sogar veranlassten, nachzufragen. Deshalb liegt der Fluchtpunkt der auffällig inszenierten zentralperspektivischen Konstruktion im Arm Christi, den er im Redegestus ausgestreckt hat. Die heftige Bewegung Petri ist wohl als Reaktion auf Christi Aussage zu verstehen, er werde ihn dreimal verleugnen, bevor der Hahn gekräht habe (Io 13,38).
Das Abendmahl Leonardos im Refektorium von S. Maria delle Grazie in Mailand aus den Jahren 1495-1497 wird zwar im Holzschnitt Dürers zitiert,[44] doch ist weder die Ankündigung des Verrats dargestellt , nochdie daraufhin losbrechende Erregung der Apostel. Dürer hat für sein Thema Leonardos Pathos gedämpft. Er hat den Raum verkleinert, die Gruppen zusammengedrängt sowie das Format geändert. Es war ihm wichtig, Johannes, den Lieblingsjünger, an der Brust seines Meisters ruhend zu zeigen (Io 13,23). Der tiefere Sinn des Blattes ist die Aufforderung an den Betrachter, sich das Wort Gottes zu Herzen zu nehmen.
Demnach ist es nicht richtig, die Inszenierung des Kelches auf den damals unter den Reformatoren ausbrechenden Streit über das Wesen und die Natur des Altarsakraments bzw. auf die Diskussion um die Gewährung des Laienkelches zu beziehen.[45] Es entsprach nicht der Denkweise Dürers, in seinen Bildern zu Fragen der Tagespolitik Stellung zu nehmen: Es ist nicht sicher, dass der Kelch der Eucharistie gemeint ist, da im Johannes-Evangelium das Ereignis der Einsetzung des Altarsakraments überhaupt nicht erwähnt wird. Man kann ihn am besten als das Weingefäß deuten, in das Jesus den Bissen für Judas getaucht hat (Io 13,26).[46] Dafür spricht, dass in der Wiener Zeichnung des Abendmahls von 1523, einem ersten Versuch, das Thema neu zu fassen, ebenfalls ein einzelner Kelch zu sehen ist, hier in eindeutiger Verbindung mit der Mahlzeit, noch bevor Judas den Raum verlassen hat.[47]
Der Holzschnitt des Abendmahls ist also keine ikonographische Neuerung im reformatorischen Sinne. Wohl aber ist seine Einfachheit, seine Konzentration auf das Wesentliche und die strikte Befolgung der Schilderung des Ereignisses im Johannes-Evangelium ein Zeugnis seiner von der neuen Bedeutung des Bibelstudiums geprägten religiösen und künstlerischen Gesinnung.
                                                                       xxx
Im Entstehungsjahr des Abendmahls begannen die Vorarbeiten zu den beiden Tafeln der Vier Apostel (Abb. 7-9), die Dürer im Jahre 1426 vollendete und dem Nürnberger Rat schenkte. Die Menge an Literatur zu diesem Werk ist nur der zum Meisterstich der ‚Melencolia I‘ vergleichbar.[48] Doch bleiben noch einige Punkte offen: Man hat oft spekuliert, ob nicht die beiden Tafeln Überbleibsel eines unvollendeten Triptychon-Projektes seien.[49] Doch sind schon die Tafeln mit Adam und Eva von 1507 zweiflügelig, ohne dass die Rekonstruktion einer verlorenen Mitteltafel zu begründen wäre. Anscheinend ist bisher noch nicht aufgefallen, dass es sich um einen eigenen Diptychon-Typus handelt: Beispiele dafür sind Rogier van der Weydens große, dreifigurige Kreuzigung in der John G. Johnson Collection im Philadelphia Museum of Art und die Marter des Sebastian von einem an Baldung orientierten oberrheinischen Meister um 1510 in der Berliner Gemäldegalerie.[50] Ziel war, die Einzelfigur zu isolieren und zu monumentalisieren, um dadurch die Spannung zwischen beiden Flügeln und die Wirkung auf den Betrachter zu steigern. Dürer dürfte diesen Typus von Doppeltafel in den Niederlanden kennengelernt haben.
Die ungemusterten schwarzen Hintergründe waren in der Nürnberger – und zuvor in der niederländischen Tradition – Außenseiten von Flügelretabeln vorbehalten, finden sich aber auch bei Porträts.[51] Dies spricht aber nicht für die These, dass es sich um die Flügelrückseiten eines aufgegebenen Altarretabels handele. Vielmehr hat Dürer bei der Suche nach dem neuen Einfachen Stil, dem stilus humilis der Lehre von den genera dicendi bzw. Stillagen, sich an der Ausstattung der einfachsten Teile von Altarretabeln orientiert.
Dürers Verhältnis zur Rhetorik, insbesondere zur Lehre von den Stillagen, wurde bisher noch nicht angemessen untersucht. Man hat nicht einmal bemerkt, dass sich der Maler in seinen Vorarbeiten für eine Theorie der Malkunst explizit auf sie bezieht.[52] Auch dürfte dem italienbegeisterten Künstler nicht entgangen sein, dass die dortigen Humanisten wie Enea Silvio Piccolomini oder Leone Battista Alberti den Malern empfehlen, die Rhetorik zu studieren.[53] Ähnliche Empfehlungen spricht Erasmus aus.
Eine Schwierigkeit entstand daraus, dass es in den Bildenden Künsten nur Äquivalenzen für die Begriffe und die Praxis der Rhetorik geben kann. Außerdem wurde der Stillagenbegriff nicht nur innerhalb eines Werkkomplexes gebraucht, sondern auch zur Charakterisierung des persönlichen Stils. So hat Philipp Melanchthon Dürer dem Hohen bzw. Großen Stil (stilus grande bzw. grandiloquus) zugeordnet.[54] Verglichen mit dem Aufwand seiner älteren Tafelgemälde sind sie in einem äußerst einfachen Stil gehalten; bezogen auf die Definitionen der Stillagen-Lehre hingegen wird man die monumentalen und machtvollen Figuren dem Großen Stil zuordnen müssen. Das Stillagenkonzept führt uns also – genau besehen – im Verständnis von Dürers Vier Aposteln kaum weiter.[55] Was Dürer anstrebte, war weniger die Umsetzung der rhetorischen Lehre, sondern die Erneuerung der verlorenen Einfachheit. Viele Jahre nach Dürers Tod berichtet Melanchthon von einem Geständnis, das dieser ihm gemacht habe: “Früher habe er die bunten und vielgestaltigen Bilder am liebsten gehabt … jetzt habe er erkannt, dass die Einfachheit der höchste Ruhm der Kunst sei.[56]
David Price hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Meister in seiner Auswahl der Apostel sich von Luthers Hervorhebung von Johannes und Paulus in der Einleitung zum sog. September-Testament hat inspirieren lassen.[57] Auch war es gewiss Absicht, die Zahl Vier bei der Festlegung der darzustellenden Personenzahl zu wählen: sie gilt seit den Pythagoräern als eine der vollkommensten Zahlen. Sie war schon Hauptthema in Dürers Titelholzschnitt für die Philosophia des Conrad Celtis, der auch die vier Temperamente darstellt, auf die noch einzugehen ist.[58]
Johannes und Paulus repräsentieren jeweils einen anderen Menschentypus: Johannes den warmherzigen jungen Mann, der bemüht ist, die tiefen Geheimnisse des Gotteswortes aufzusaugen, Paulus hingegen den überzeugungsfesten,  kühlen Kopf, nicht ohne dämonische Züge. Johannes ist in schwungvollem Kontrapost gezeigt, überbordend und expansiv, Paulus vor allem standfest. Der in warmem Rot gehaltene, durch das komplementäre Grün in seiner Wirkung noch gesteigerte Mantel des Johannes ist weich und ausgreifend, der kalt-graue des Paulus ist teils knittrig, teils von säulenartiger Struktur, als wäre er aus Stein gehauen.[59]
Dürer ist als Maler und Empiriker leidenschaftlich an der Erfassung und Erforschung der Wirklichkeit interessiert, vor allem der des Menschen, und das heißt für ihn: des Individuums. Da die tradierten Aposteltypen letztlich auf die antiken griechischen Philosophenbildnisse zurückzuführen sind, konnten sie für ihn höchstens Ausgangspunkt der Gestaltung sein. Sollten die Apostel überzeugen, mussten sie als echte Menschen auftreten. Deshalb suchte er nach Leuten, die seiner Vorstellung vom Erscheinungsbild der darzustellenden Person entsprachen und schuf Porträtstudien von ihnen, um daraus das ‚richtige‘ Antlitz zu formen: So entstanden Bildnisse, die seinen Anspruch auf Wirklichkeitstreue erfüllten. (Abb. 8, 9) Wie weit der Abstand zum ausgeführten Bild war, wie groß also die Transformation, lässt sich an der Vorzeichnung zum Paulus ermessen:[60] Verglichen mit der Energie und dem gefährlich flammenden Blick des Apostels wirkt der Kopf der Zeichnung vom Altern geprägt, mürrisch und kraftlos. Auffällig ist, wie sehr sich Dürer in sein Gegenüber hineinversetzt und bei jedem Thema jeweils ein anderer Maler wird: die Strichführung seines Pinsels und seines Stiftes bei dem Choleriker hat etwas Heftiges, dem cholerischen Temperament Adäquates, während die Zeichnung des Modells für Paulus gleichmäßig und bedächtig ausgeführt worden ist. Bezeichnend ist die Wahl eines erheblich kleineren Papierformates, das erst später durch Anstückung auf die Größe des anderen Kopfes gebracht wurde.
Bei der Gestaltung dieser Köpfe ließ sich Dürer also von der Temperamentenlehre leiten (Abb. 8, 9):[61] Der als Vorbild für Markus gewählte Mann muss sehr lebhaft gewesen sein; Dürer hat seine Leidenschaftlichkeit durch das Hochrecken des Hauptes, den geöffneten Mund, die aufgerissenen Augen und die quirligen Locken noch gesteigert. Bei der Ausführung des Gemäldes wurden daraus zornige, löwenhafte Züge. Darin folgte er der Ikonographie dieses Evangelisten, dessen Charakter schon zuvor von Andrea Mantegna und anderen oberitalienischen Künstlern mit seinem Symboltier, dem Löwen, in Verbindung gebracht worden war: Sein Antlitz wurde zur facies leonis, zum Löwengesicht, dem Halbgott Herkules vergleichbar, bei dem seit der Antike das Löwenhafte betont wurde. Die Wesensverwandtschaft der Menschen mit Tieren ist eine der Grundanschauungen der damals in verstärktem Maße rezipierten antiken Physiognomonik.[62]
Dass die Vier Apostel die Temperamentenlehre thematisieren, wurde und wird nur ungern angenommen, ist aber durch die Aussage Johann Neudörfers gesichert, wonach man in den vier Männern „eigentlich einen sanguinicum, cholericum, melancolicum und phlegmaticum erkennen mag.“ Die Gegner dieser Interpretation fußen fast alle auf Heinrich Wölfflin, zuletzt noch Leuker.[63] Doch hat man bisher aus der branchenüblichen Sorglosigkeit in philologischen Fragen nicht nach dem ursprünglichen Wortsinn des Satzes gefragt, hat also die Aussage als ‚vielleicht‘ und ‚möglicherweise‘, d.h. konjunktivisch gedeutet – gemäß dem gegenwärtigen Sprachgebrauch. Doch ist nach Grimms Wörterbuch der Satz so zu verstehen: „dass man mit Gewissheit einen Sanguiniker … erkennen kann.“[64] Das aber ist nicht mehr so leicht hinweg zu interpretieren. Panofsky, Saxl und Klibansky haben zudem eine Fülle von Material zu Dürers Auseinandersetzung mit dieser Lehre ausgebreitet.[65] Die Belege sind zahlreich. So schreibt Dürer in seinem um 1508 konzipierten Entwurf zum Lehrbuch der Malerei: „Item wir haben mencherley gestalt der menschen ursach der fir camplexen.[66] Der Unterschied der Menschen in Körperbau, Gestalt und Charakter sei demnach durch die verschiedene Mischung der vier Grundsäfte zu erklären, d.h. Blut (sanguis) – von daher der Sanguiniker – Galle (chole) – deshalb der Choleriker –, schwarze Galle (melan chole), die beim Melancholiker dominiert) und phlegma, das den Menschen zum Phlegmatiker macht. Dürer war überzeugt, dass man durch Messen feststellen könne, welcher der vier Grundtypen bei einem Menschen überwiege. Man könne ebenso die gewonnenen Maße benutzen, um etwa die Figur eines Cholerikers zu konzipieren. Demnach ist die Kenntnis der Temperamente wesentlich für das Verständnis des Körperbaus und Charakters jedes Menschen, aber auch für seine Darstellung durch den Künstler.
Man hat wiederholt danach gefragt, warum Dürer den Markus ausgewählt hat bzw. auf wen er eigentlich mit seinem Zitat aus dem Markus-Evangelium, Kap. 12,38-40 zielte: „Vnnd er leret sie vnd sprach Zu Jnen: habt acht auff die schrifftgelertten. Die gehen gern Jn lanngen kleidern. Vnnd lassen sich gern grussen auff dem marckt. Vnnd sitzen gern obenan in den schulen vnnd vber tisch. Sie fressen der witwen heuser, vnnd wenden langs gepet fur. Dieselben werden dester mer verdamnus empfahen. Die Bettelmönche können es kaum gewesen sei, denn die waren seit 1525 aus der Stadt vertrieben. Auf die damaligen Nürnberger Sektierer kann der Satz auch kaum gemünzt sein. Zu überlegen ist vielmehr, ob die Aufnahme des Markus in die Vierergruppe nicht eher durch seine Eignung, als Choleriker zu figurieren, bestimmt war. Es ist sogar zu fragen, ob nicht überhaupt die Wahl von vier biblischen Zeugen für die beiden Tafeln vor allem durch die Vierzahl der Temperamente veranlasst wurde. Damit aber wird die Temperamentenlehre zu einem Hauptthema der Tafeln, gleichberechtigt mit der religiösen Aussage. Im übrigen hat Dürer mit den Vier Aposteln auch vier Lebensalter des Mannes dargestellt: Johannes mit etwa 20, Markus mit 35, Paulus mit 50 und Petrus mit 65 Jahren. Es ergeben sich außerdem Bezüge zu den vier Himmelsrichtungen, den vier Tages- und Jahreszeiten, den vier Evangelien, Großen Propheten usw. [67] Obwohl uns heute diese Lehren genauso wie die Astrologie, die Physiognomonik und andere damals eifrig studierten Wissenschaften als antiquiert, wenn nicht gar als Hokuspokus erscheinen, besteht kein Grund, ihre Wertschätzung als Wissenschaften in den Jahrzehnten um 1500 zu leugnen; vielmehr sind sie zum besseren Verständnis der Kunstwerke genau zu studieren. Denn  Kunst und  Wissenschaft galten als Geschwister.
Es ging dem Maler also mit dem Geschenk der Vier Apostel an den Nürnberger Rat keineswegs nur um die Memoria des Künstlers und sein religiöses Manifest, sondern er wollte zugleich eine allgemeine, anthropologische  und kunsttheoretische Botschaft vermitteln: Die Bilder sollten als Vorbild für eine am wissenschaftlichen Studium der Natur, vor allem des Menschen, ausgerichtete Kunst verstanden werden  und zugleich als Exempel ihrer theoretischen Fundierung.
Die Beobachtungen an den Aposteltafeln werden bestätigt durch die beiden ebenfalls 1526 vollendeten Porträts der Nürnberger Patrizier Hieronymus Holzschuher und Jakob Muffel in der Berliner Gemäldegalerie (Abb. 10, 11).[68] Muffel hat eine dem Paulus vergleichbare, dunkel–rotviolette Gesichtsfarbe und einen ähnlich strengen Gesichtsausdruck, Holzschuher hingegen ein eher gelbliches, galliges  Inkarnat wie Markus. Dessen Haarwuchs ist demjenigen der Vorzeichnung für Markus ähnlich, während Muffel wie Paulus einen fast kahlen Schädel hat. Die Energie und der zornesmütige Gesichtsausdruck kennzeichnen Holzschuher als Choleriker. Muffel hingegen ist mit dem nach innen gekehrten Blick und den zusammengekniffenen Lippen zu den Melancholikern zu zählen. Dem entsprichtder Gegensatz zwischen dem Schwarz-Blau-Dunkelbraun-Akkord im Gewand Muffels zum gelbgrünen Hintergrund und dem warmen Braun von Holzschuhers Pelz.  Bei aller Ähnlichkeit der Anlage der beiden Bildnisse ist bei genauerem Hinsehen jedes einzelne Pelzhaar im Holzschuher-Porträt mit mehr Schwung gemalt hat als bei Muffel. Dessen Haltung ist als kühle Dikstanziertheit zu bezeichnen, sein Blick fast abwesend, während Holzschuher dargestellt wird, als wolle er vor Zorn ‚aus der Haut fahren‘ und den Betrachter angreifen.
Fazit: Dürers Spätstil ist zwar von der Reformation und dem Humanismus geprägt, aber auch von seinen Bemühungen um die Reform der Kunst gemäß der Wissenschaft und ihrer Methodik. Das Naturstudium am Menschen, die Erfassung seiner Maße und Proportionen war für ihn Teil einer wissenschaftlichen  Anthropometrie. Die Reformationsbewegung beförderte seinen Gesinnungswandel zu Strenge und Einfachheit, größerer Bibeltreue und Abstreifung alles Überflüssigen. Doch war Dürer die Neuformierung der Kunst gemäß den Prinzipien der Wissenschaft genauso wichtig wie die Reinigung der Kirche – für ihn gehören sie zusammen. In beiden galt es, zu den verloren geglaubten Ursprüngen zurückzukehren.


Foto- und Unterschriften-Liste
1.      Albrecht Dürer: Federzeichnung mit neun Darstellungen des hl. Christophorus, 1521, Berlin, Kupferstichkabinett SPK
2.      Albrecht Dürer: hl. Christophorus, Kupferstich (SMS I, 94), 1521
3.      Albrecht Dürer: hl. Christophorus, Kupferstich (SMS I, 93), 1521
4.      Albrecht Dürer: Muttergottes mit Kind, Kupferstich (SMS I, 84), 1518
5.      Albrecht Dürer: Muttergottes ihr Kind nährend (SMS I, 86), Kupferstich, 1519
6.      Albrecht Dürer: Abendmahl, Holzschnitt, 1523
7.      Albrecht Dürer: Die Vier Apostel, München, Alte Pinakothek, 1526
8.      Albrecht Dürer: Studie zum Markuskopf, Bleizinn-Griffel auf braun grundiertem Papier,Berlin, Kupferstichkabinett SPK
9.      Albrecht Dürer: Studie zum Pauluskopf, Bleizinn-Griffel auf braun grundiertem Papier, Berlin, Kupferstichkabinett SPK
10.  Albrecht Dürer: Porträt des Jakob Muffel, Berlin, Gemäldegalerie SPK, 1526
11.  Albrecht Dürer: Porträt des Hieronymus Holzschuher, Berlin, Gemäldegalerie SPK, 1526


[1] Friedrich Roth: Die Einführung der Reformation in Nürnberg, Würzburg 1885, 58ff.- Hans v. Schubert: Lazarus Spengler und die Reformation in Nürnberg, hg. v. Hajo Holborn, Leipzig 1934, bes. 140-153.- Gottfried Seebass: Dürers Stellung in der reformatorischen Bewegung, in: Albrecht Dürers Umwelt. Festschrift zum 500. Geburtstag Albrecht Dürers am 21. Mai 1971 (Nürnberger Forschungen 15, 1971), 101-131.- Linda und Peter Parshall: Art and the Reformation. An Annotated Bibliography, Boston 1986.- Die Graphiken Dürers werden unter der Sigle SMS zitiert, d.h. nach: Rainer Schoch / Matthias Mende / Anna Scherbaum: Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk, 3 Bde., München u.a. 2001.- Die Bibel wird zitiert nach der Vulgata, hg. von Robert Weber, Stuttgart 1975.- Für das Verständnis des Malers und seiner Kunst ist nach wie vor maßgeblich: Erwin Panofsky: The Life and Art of Albrecht Dürer, hier benutzt die Edition Princeton 1955; S. 198ff. zur Krise Dürers um 1519.
[2] Heinrich Bornkamm: Kurfürst Friedrich der Weise (1463-1525), in: Archive for Reformation History 64, 1973, 79-85, hier: 83.
[3] Panofsky [Anm. 1], 198.
[4] Über Dürers Klage im Tagebuch der niederländischen Reise s. Hans Rupprich (Hg.): Dürer. Schriftlicher Nachlaß, 3 Bde., Berlin 1956-1969, hier: Bd. I , 170-172.
[5] Der kulturkämpferisch aggressive Protestantismus des 19. Jahrhunderts hatte Dürer ganz vereinnahmt. Ernst Heidrich: Dürer und die Reformation, Leipzig 1909 war der erste, der darauf aufmerksam machte, dass die Texte unter den Vier Aposteln (s.u.) weder als lutherische noch als katholische Parteinahme zu verstehen sind. Die katholische Position bei: Heinrich Lutz: Albrecht Dürer und die Reformation, offene Fragen, in: Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana 16, 1961, 175-183.- Ders.: Albrecht Dürer in der Geschichte der Reformation, in: Historische Zeitschrift 206, 1968, 22-44.- Wolfgang Braunfels: Die reformatorische Bewegung im Spiegel von Dürers Spätwerk, in: Herbert Schade (Hg.): Albrecht Dürer. Kunst einer Zeitenwende, Regensburg 1971, 123-143.
[6] Karl Arndt / Bernd Möller: Albrecht Dürer im Spannungsfeld der frühen Reformation. Seine Darstellungen des Abendmahls Christi, Göttingen 2005.- Barbara Welzel: Abendmahlsaltäre vor der Reformation, Berlin 1991.
[7] Thomas Schauerte: Der Kardinal: Albrecht von Brandenburg, Renaissancefürst und Mäzen, Kat. der Ausstellung in der Stiftung Moritzburg Halle 2006, Regensburg 2006. Lukas Cranach hat in noch höherem Umfang katholische Auftraggeber bedient; s. Andreas Tacke: Der katholische Cranach. Zu zwei Großaufträgen von Lucas Cranach d. Ä., Simon Franck und der Cranach-Werkstatt (1520-1540), Mainz 1992.
[8] Grund und Ursach aller Artikel D. Martin Luthers, so durch römische Bulle unrechtlich verdammt sind, Wittenberg 1521, in: Otto Clemen (Hg.): Luthers Werke in Auswahl, Bd.I (1517-1520), Berlin 51959, 62, Z. 17 und an vielen anderen Orten.- Max Hasse: Zunft und Gewerbe in Lübeck, Kat. der Ausstellung im St.Annen-Museum in Lübeck 1972, Nr. 10, 27.
[9] Friedrich Winkler: Die Zeichnungen Albrecht Dürers, 4 Bde., Berlin 1937-1939, hier: Bd. IV, Nr. 800, Berlin, Kupferstichkabinett SPK.- Fedja Anzelewsky, in: Albrecht Dürer. Kritischer Kat. der Zeichnungen, zugleich Kat. der Ausstellung im Kupferstichkabinett Berlin 1984, Nr. 100.- Till-Holger Borchers: Van Eyck bis Dürer. Altniederländische Meister und die Malerei in Mitteleuropa 1430-1530, Kat. der Ausstellung im Groeninghemuseum Brügge, S. 432 (Juliane v. Firks).- Die beiden Christophorus-Stiche bei: F. W. H. Hollstein: German Engravings, Etchings and Woocuts, ca. 1400-1700, Bd. VII, Albrecht and Hans Dürer, bearb. von K. G. Boon / R. W. Scheller, Amsterdam 1962, Nr. 52, 53.- SMS I[Anm.1], Nr.93 und 94.- Christophorus ist inzwischen aus dem offiziellen Heiligenkalender der Katholischen Kirche gestrichen.- Werner Welzig (Hg.): Erasmus v. Rotterdam: Ausgewählte Schriften, 8 Bde., Darmstadt 1975, Bd. II, 1-211, hier: 59 u. 93.
[10] Auch in einem anderen Punkt wurde man enttäuscht: Man meinte, im Text des Erasmus über den Miles christianus die literarische Vorlage für Dürers Meisterstich Ritter, Tod und Teufel gefunden zu haben, bis sich Widerspruch erhob: Sten Karling: Ritter, Tod und Teufel. Ein Beitrag zur Deutung von Dürers Stich, in: Actes du 22e Congrès International de l’Histoire de l’Art, Budapest 1972, 733.- Ursula Meyer: Politische Bezüge in Dürers „Ritter, Tod und Teufel“, in: Kritische Berichte 6, 1978/6, 27-41.- Pierre Vaisse / Jean Wirth: Dürer et la Réforme, in: De la puissance de l’image: Les artistes du Nord face à la Réforme, Paris 2002, 57-100, bes. 65-70. Die Verteidigungsrede von Matthias Mende in: SMS [Anm.1] I, Nr. 63 überzeugt nicht: Das Bild zeigt keineswegs den christlichen, edelmütigen, idealen Ritter des Erasmus, sondern einen brutalen, verwegenen Kerl, kurz: doch eher den Schrecken aller damaligen Kaufleute und Reisenden, den Raubritter. Vgl. Matthias Mende, in: Albrecht Dürer, Kat. der Ausstellung in der Albertina Wien 2003, Nr. 137-139.
[11] Die Lehre von menschlicher Proportion, Nürnberg 1528 (Rupprich [Anm.4] III, 17-306); Die Unterweisung der Messung (Rupprich III, 307-368).
[12] SMS [Anm. 1] I, Nr. 93 und 94.- Hollstein [Anm. 9], Nr. 52 und 53.- Winkler[Anm. 9] IV, Nr. 801 und 802: Die Zeichnung in Besançon ist eine Nachzeichnung nach dem Stich SMS Nr. 93.
[13] Im Tagebuch der niederländischen Reise, s. Rupprich [Anm. 4] I, 172.- Joseph Heller: Das Leben und die Werke Albrecht Dürer’s. Des zweyten Bandes zweyte Abteilung. Dürer’s Bildnissse, Kupferstiche, Holzschnitte und die nach ihm gefertigten Blätter, Bamberg 1827, 709-721 weist von jedem der beiden Stiche jeweils sechs graphische Kopien nach.
[14] In der zum Campin-Kreis gehörenden Verkündigung im Musée-des-Beaux-Arts in Brüssel ist – bezeichnend für die damalige Frömmigkeitspraxis – ein kolorierter Holzschnitt mit Siegellack an die Kaminabdeckung geklebt; s. Stephan Kemperdick / Jochen Sander: Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden, Kat. der Ausstellung in der Gemäldegalerie Berlin und im Städel, Frankfurt/M. 2008, 188ff.
[15] Dürer dürfte von dem in seiner Werkstatt 1511 geschaffenen Holzschnitt desselben Themas noch Abzüge auf Lager gehabt haben; SMS II [Anm.1], Nr. 133 u. 228.
 [16] Christofer Conrad: Giovanni Domenico Tiepolo: Die Flucht nach Ägypten, Kat. der Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart, Graphische Sammlung 1999.- Felix Reuße: Giandomenico Tiepolo. Die Flucht nach Ägypten. Radierungen, Kat. der Ausstellung im Augustinermuseum Freiburg /Brg. 2007.
[17] Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik, München 21973, §§ 260-442. Das Mittelalter hatte einen Großteil seiner Kunstanschauungen der Rhetorik entnommen und diese Lehren zur leichteren Vermittlung systematisiert und in den sog. Briefstellern für die Kanzleipraxis zurechtgemacht.
[18] Geoffroy de Vinsauf s. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, hier 71969, Register S. 575. Über die Rhetorik-Rezeption in der Malerei des 15. Jahrhunderts s. Robert Suckale: Rogier van der Weydens Bild der Kreuzabnahme und sein Verhältnis zu Rhetorik und Theologie. Zugleich ein Beitrag zur Erneuerung der Stilkritik, in: Reinhard Brandt (Hg.): Meisterwerke der Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Andy Warhol, Leipzig 2001, 10-44 (Reclam Bibliothek Leipzig, Bd. 20013) [wiederabgedruckt in: Robert Suckale: Stil und Funktion. Ausgewählte Schriften zur Kunst des Mittelalters, hg. von Peter Schmidt und Gregor Wedekind, München und Berlin 2003, 409-431].
[19] Desyderii Erasmi Roterodami de duplici copia, verborum et rerum commentarii duo, Basel 1514; Desiderii Erasmi Roterodami Opera omnia, 10 Bde., Leiden 1703, Reprint Hildesheim 1961, hier: Bd. I, 3-110.
[20] Rupprich [Anm.4] II, 109.
[21] Richard Benz (Hg.): Die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine, Heidelberg 91979, 498-502; Friederike Werner: Christophorus, in: Lexikon der Christlichen Ikonographie Bd. V, 496-508.
[22] Winkler [Anm. 9] I, 58.
[23]Anselm Salzer: Die Sinnbilder und Beiworte Mariens in der deutschen Literatur und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters. Mit Berücksichtigung der patristischen Literatur. Eine literar-historische Studie, Reprint Darmstadt 1967.- Ernst Heidrich: Geschichte des Dürerschen Marienbildes, Leipzig 1906.- Klaus Schreiner: Maria, Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München 1994 und die zahlreichen anderen Studien dieses Gelehrten zu Maria und Marienfrömmigkeit.- SMS I [Anm. 1] I, Nr. 62, 63, 67, 72 und 73 (Matthias Mende).- Robert Suckale: Maria. Jungfrau – Mutter – Königin. Schöne Madonnen am Rhein, Kat. der Ausstellung in Bonn, Rheinisches Landesmuseum 2009, 24-37.
[24] Robert Suckale: Die Erneuerung der Malkunst vor Dürer, 2 Bde., Petersberg 2009,288-289; Winkler [Anm. 9] I, Nr.4.
[25] Winkler [Anm. 9] I, Nr. 296-297.- Fedja Anzelewsky: Albrecht Dürer: Das malerische Werk, 2 Bde., Berlin.21991, Nr. 93.
[26] Die Zahl 8 wurde von Dürer selbst verändert; offenbar war der Stich unfertig liegen geblieben.
[27] Winkler [Anm. 9] IV, Nr. 836-857. Der Holzschnitt der thronenden Muttergottes mit den Engeln, die wohl als Darstellung der Neun Engelschöre gemeint sind, fällt durch die Größe und Thematik sowie die geometrisierende, an Dürers Proportionsstudien orientierte Gestaltung aus der Reihe seiner Marienbilder heraus.
[28] Die Reise dauerte vom 12.7.1520-17.7.1521.- Rupprich [Anm. 4] I, 154, Zeile 233 und 251.-Nach Rupprich I, 181, Anm. 127 verbergen sich die drei Marienstiche oft auch unter der Formulierung „4 neue stücklein“, wobei oft noch der Stich mit dem Antonius bzw. das Bauernpaar hinzugezählt werden (SMS I, 87 und 88). Manchmal werden auch nur ein oder zwei Stiche erwähnt, so Rupprich, I, 156, Z. 22 und 26f.; S. 157, Z. 32; S. 158, Z.148.
[29] Über Weltlandschaft s. Suckale [Anm. 24], 361-376.
[30] Robert Suckale: Die Glatzer Madonnentafel des Prager Erzbischofs Ernst von Pardubitz als gemalter Marienhymnus. Zur Frühzeit der böhmischen Tafelmalerei, mit einem Beitrag zur Einordnung der Kaufmannschen Kreuzigung, in: Wiener Jahrbuch für Kunstwissenschaft 46/47, 1993/1994 (Festschrift für Gerhard Schmidt), 737-756 und 889-892; Reprint in: Suckale [Anm. 18], 119-150.
[31] Robert Suckale: Die Sternberger Schöne Madonna, in: Anton Legner: Die Parler und der Schöne Stil 1350‑1400, Europäische Kunst unter den Luxemburgern, Kat. der Ausstellung in Köln 1981, Bd.V: Resultatband 117‑122; Reprint in: Suckale [Anm. 18], 87-101.
[32] Es gibt Ausnahmen, wie z.B. die Madonnen Giovanni Pisanos; auch wird die Doppeldeutigkeit des Halbprofils im Lauf der Zeit durchaus unterschiedlich gehandhabt, von Künstlern wie Rogier van der Weyden äußerst subtil.
[33] Man kann allenfalls die Haube, die von der Maria der Epiphanie in Rogiers Columba-Retabel in der Münchner Alten Pinakothek herzuleiten ist, als traditionelles Marienmotiv bezeichnen.
[34] Erwin Panofsky: Erasmus and the Visual Arts, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 32, 1969, 200-227.
[35] Erasmus von Rotterdam: Ratio seu compendium verae theologiae per Des. Erasmus Roterodamum (Theologische Methodenlehre oder Kurzer Weg zur wahren Gottesgelehrsamkeit), in: Werner Welzig (Hg.): Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, lat.-dt., 8 Bde., Darmstadt 1967, hier: Bd. III, 11-495 bes., 416f.- Über des Erasmus Streben nach einfacher Wahrheit s. Wilhelm Dilthey: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, Gesammelte Schriften lI, Stuttgart u.a. 1957, 44.- Christoph Schubert u.a. (Hg.): Ad veram religionem reformare: Frühchristliche Apologetik zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Erlangen 2006 (Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften 109).- Über den Verfall der Exegese bei den Spätscholastikern s. Henri de Lubac: Exégèse médiévale, 4 Bde., Paris 1963, hier: II/2, 378-385.
[36] Die Gleichung: alt = schlicht = fromm findet sich u,a, auch mehrfach in Aventins Chronika.
[37] Allerdings finden sich Neigungen in diese Richtung schon zuvor bei Dürer. Bezeichnenderweise kehren ganz ähnliche Forderungen in späteren Revolutionszeiten wieder; s. Nicolas Chamfort: Maximen und Gedanken, in: Fritz Schalk (Hg.): Die französischen Moralisten, München 1973 (dtv text-bibliothek 6026), I, 275f.: „… unsere Zeit [hat] die Wörter wieder in ihre Schranken gewiesen… Die scholastischen, dialektischen, metaphysischen Spitzfindigkeiten hat man verworfen und ist … wieder zur Einfachheit und Wahrheit zurückgekehrt.“
[38] Rupprich [Anm. 4] I, 115.
[39] Matthias Mende: Der alte Dürer, in: SMS [Anm. 4] I, 101-113,hier: 113.
[40] Martin Luther: Ein Sermon von dem Neuen Testament, d.i. von der Heiligen Messe, in: Clemen [Anm. 8], I, 301.
[41] SMS [Anm. 1] II, Nr. 259 (Rainer Schoch). Über die Szenenfolge bzw. Motivauswahl s. Welzel [Anm. 6], 32-39.
[42] Das Besondere dieses Schrittes wurde zuerst von Erwin Panofsky [Anm. 1], 21955, 221-223 betont. S.a. David Price: Albrecht Dürer’s Last Supper (1523) and the September Testament, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 59, 1996, 578-584.
[43] Wirth / Vaisse [Anm. 10], 76.
[44] Zur Leonardo-Rezeption s. Emil Moeller: Das Abendmahl des Lionardo da Vinci, Baden-Baden 1952.- Pinin Brambilla Barcilon / Pietro C. Marani: Leonardo: L'Ultima Cena, Mailand 1999.
[45] Gottfried Krödel: Nürnberger Humanisten am Anfang des Abendmahlsstreites. Eine Untersuchung zum Verhältnis Pirckheimers und Dürers zu Erasmus von Rotterdam, besonders in den Jahren 1524-1526, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 25, 1956, 40-50.- Rainer Schoch, in: SMS [Anm.1] I, 488.
[46] Price [Anm. 42], 580f.
[47] Winkler [Anm. 9] IV, Nr. 889.
[48] Martin Schawe hat das ältere Schrifttum gründlich diskutiert: Die Vier Apostel, 1526, in: Gisela Goldberg u.a. (Hg.): Albrecht Dürer: Die Gemälde der Alten Pinakothek, Heidelberg  o.J. (1998), 478-559.- Jan Białostocki: Dürer and his Critics, Baden-Baden 1986, 289-307 (saecvla spiritalia 7).- Matthias Mende, in: SMS [Anm. 1] I, 189-193.
[49] Erwin Panofsky: Zwei Dürer-Probleme, in Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst NF 8, 1931, 18-48.
[50] Robert Suckale: Rogier van der Weyden und die Kunst Italiens, in: Städel-Jahrbuch 18, 2002, 37-58, Reprint in: Suckale [Anm. 18], 501-530; Suckale [Anm. 24], I, 76-80.- Das Sebastians-Diptychon hat die Inv.-Nr. 1689. Die Anordnung von je zwei Figuren in flügelartigen Seitentafeln greift bekanntlich ein Motiv der Pala von Giovanni Bellini aus dem Jahre 1489 in S. Maria dei Frari in Venedig auf. Allgemein s. Karl-August Wirth. Diptychon; in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte IV, Sp. 61-74, hier Sp.  67.- John O. Hand (Hg.): Unfolding the Netherlandish Diptych, Cambridge 2006.- Anmut und Andacht. Das Diptychon im Zeitalter von Jan van Eyck, Hans Memling und Rogier van der Weyden, Stuttgart 2007.
[51] Suckale [Anm. 24] I, 102.
[52] Rupprich [Anm. 4] III, 270: “Dan ein jtlicher werckman sol künen machen ein adellich oder pewrisch bild. Dan es ist ein grosse kunst, welcher jn groben pewrischen dingen ein rechten gewalt und kunst kann an tzeigen jm geprawch.“ Vgl. auch S. 277, Z. 93-98 und S. 281, Z. 21-24.
[53] Hans Rupprich: Die kunsttheoretischen Schriften L.B. Albertis und ihre Nachwirkung bei Dürer, in: Schweizer Beiträge zur allgemeinen Geschichte 18/19, 1960/1961, 219-239.
[54] Philipp Melanchthon: Elementa rhetorices, Wittenberg 1531, zitiert nach Rupprich [Anm. 4] I, 306: „Durerus enim pingebat omnia grandiora […] Lucae [Cranach] picturae graciles sunt […] Matthias [Grünewald] quasi mediocritatem servabat.- Donald B. Kuspit: Melanchthon and Dürer. The Search for the Simple Style, in: The Journal of Medieval and Renaissance Studies 3, 1973, 177-202.
[55] Suckale [Anm. 24], 430-433.- Unbefriedigend sind die Ausführungen von Wolfgang Schmid: Warum schenkte Albrecht Dürer dem Nürnberger Rat die ‚Vier Apostel‘? In: Pictura quasi fictura. Die Rolle des Bildes in der Erforschung von Alltag und Sachkultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Internationales Round-Table-Gespräch Krems/Donau 3.10.1994, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit 1, Wien 1996, 129-174.
[56] Brief Melanchthons an Herzog Georg v. Anhalt vom 17.12.1547; Rupprich [Anm. 4], I, 289.- Heinrich Wölfflin: Die Kunst Albrecht Dürers, hg. von Kurt Gerstenberg, München 1963, 324.
[57] Price [Anm. 42].
[58] Dieter Wuttke: Humanismus in Nürnberg um 1500, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 48, 1985, 677-688, hier: 679.- Dürer hat auch in diesen Tafeln das gewohnte Halbprofil aufgegeben, analog den Marienstichen: Kein Kopf wird auf gleiche Weise gegeben, keiner folgt nur der Konvention.
[59] Adolf Max Vogt: Albrecht Dürer. Die Vier Apostel, in: Martin Gosebruch (Hg.): Festschrift für Kurt Badt zum 70. Geburtstage, Berlin 1961, 121-134.
[60] Winkler [Anm. 9], IV, Nr. 870 und 872, Kupferstichkabinett Berlin, beide 1526 datiert; Anzelewsky [Anm. 9], Nr. 117 und 118. Ich teile weder seine Meinung, dass diese Kopfstudien keine Naturstudien seien, noch die, dass der Markus im Gemälde „einen etwas bäuerlich derben und dumpfen Charakter erhalten habe.“
[61] Für Johannes mag in der Tat der Kopf Philipp Melanchthons Ausgangspunkt gewesen sein (s. den Porträtstich SMS [Anm. 1], I, Nr. 101.). Doch hat auch die Tatsache, dass der Adler das Symboltier des Johannes ist, bei der Prägung des Gesichtes eine Rolle gespielt. Die Identifizierung der Apostel mit Nürnberger Protagonisten der Reformation durch Gerhard Pfeiffer: Die Vorbilder zu Dürers „Vier Aposteln“, Nürnberg 1959/1960 überzeugt nicht.
[62] Rupprich [Anm. 4], III, 239.- Robert Suckale: Haben die physiognomischen Theorien für das Schaffen von Dürer und Baldung eine Bedeutung?, in: Friedrich Piel u.a.(Hg.): Festschrift Wolfgang Braunfels, Tübingen 1977, 357‑369, hier: S. 369, Anm. 57.- Ernst Rebel: Albrecht Dürer: Maler und Humanist, München 1996, 433-438.-Matthias Mende korrigiert im Kat. Wien 2003 [Anm. 10], 532 unter Verweis auf ältere oberitalienische Gemälde die Behauptung Rebels, S. 435, der Typus des löwenhaften Markus sei eine Neuerfindung Dürers.
[63] Wölfflin [Anm. 56], 285f. unhaltbare Aussagen zum Holzschuher-Porträt; Tobias Leuker: Dürer als ikonographischer Neuerer, Freiburg/Brg. 2001, 77ff., die Vier Apostel 94ff.
[64] G. W. K. Lochner (Hg.): Des Johann Neudörfer Schreib- und Rechenmeisters zu Nürnberg Nachrichten von Künstlern und Werkleuten …, Wien 1875, 134 (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance 10). Als erster hat Panofsky [Anm. 49] die Wichtigkeit der Temperamentenlehre bei Dürer erkannt. Zu anderen frühen Zeugnissen für eine Deutung der Heiligen als –Exempel der vier Temperamente s. Schawe [Anm.48], 521ff.
[65] Raymond Klibansky /Erwin Panofsky / Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, Reprint Frankfurt/M. 1990; s.a. Panofsky, Anm. 49.
[66] Rupprich [Anm. 4] II, 117; s.a. sein Kommentar S. 98-99. Dürer nennt als Quelle seines Wissens die Fisycy, d.h. die griechischen Ärzte, womit am ehesten Galen gemeint sein dürfte.- Richardus Foerster: Scriptores physiognomonici graeci et latini, 2 Bde., Leipzig 1893/1894.
[67] Hierbei spielen auch die vier Elemente: Erde, Wasser, Feuer und Luft eine Rolle, ebenso die vier Qualitäten: trocken, feucht, warm und kalt usw.
[68] Anzelewsky [Anm. 25], Nr. 178 u. 179.