14.11.10

Stilbegriffe, Stilgeschichte, Stilkritik

Die mit Stil- zusammengesetzten Begriffe sind zentral für die Kunstgeschichts-Wissenschaft. Doch wurde ihre Bedeutung im Lauf der Geschichte sehr verändert. Obendrein werden sie oft ungenau gebraucht. Deshalb halten einige die Beschäftigung mit Stil-Fragen für müßig. Doch ist z.B. die Stilkritik aus der Praxis der Museen und des Kunsthandels nicht wegzudenken, d.h. die Methode, durch vergleichendes Aufspüren bestimmter Merkmale Kunstwerke Künstlern zuzuschreiben, sie zu datieren und zu lokalisieren.

A. Herkunft und Bedeutung des Begriffs Stil - die Lehre von den Stillagen
            Das Wort Stil kommt von der lateinischen Bezeichnung 'stilus' für Stift. Als Metapher für 'Schreibweise' wurde es in den Wortschatz der Rhetorik übernommen, die schon in der Antike, erst recht im Mittelalter und der Renaissance Hauptmuster der Architektur- und Kunsttheorie war; bekanntlich stammen auch andere zentrale Kunst-Begriffe, wie 'Komposition' und 'Darstellung', aus der Rhetorik. Der Begriff Stil ist Teil der Lehre von den 'genera dicendi' (Arten der Rede, Stillagen). Gemäß der im Mittelalter systematisierten Auffassung ist jede Rede unterschiedlich zu gestalten, und der Redner hat dabei dreierlei zu berücksichtigen: a) den Rang des Adressaten, b) den Rang des behandelten Gegenstandes und c) die Bedeutung des Anlasses. Vereinfacht gesagt hat die Rede vor dem König würdevoller zu sein als die vor Bauern; die über Gott feierlicher als die über Tagesereignisse; und der panegyrische Festvortrag anders als die Tischrede usw. Im Prinzip werden drei Stillagen unterschieden: a) der 'hohe' Stil (stilus altus, grandis oder grandiloquus), im Mittelalter auch 'reich' oder 'geblümt' genannt (d.h. mit vielen schmückenden Redefiguren ausgestattet); b) der 'mittlere Stil' (stilus medius) und c) der 'niedere Stil' (stilus humilis). In der Praxis begnügte man sich oft mit der Unterscheidung von zwei 'Stillagen' oder 'Stilstufen'. Den 'richtigen' Stil zu wählen, heißt das Prinzip der 'Angemessenheit' zu befolgen (lat. 'decorum', ein Wort, das nicht mit 'Dekoration' verwechselt werden darf, trotz gemeinsamer Herkunft). Verfasser von Chroniken teilen regelmäßig im Vorwort mit, sie hätten im 'stilus rudis et planus' (roh und einfach bzw. direkt) geschrieben. Das ist zwar ein Topos, d.h. eine feststehende Formel. Dennoch hat ihre Aussage einen harten Kern, dass nämlich zur Aufgabe 'Chronik' der niedere Stil am besten passt. Entsprechend ist zu erwarten, dass eine Altartafel mit würdevolleren bildnerischen Mitteln gestaltet wird als ein erzählendes Historienbild und dass die Erscheinung einer Bettelordenskirche bescheidener ist als die der benachbarten Kathedrale.
            In der Mentalität der Gesellschaft des vormodernen Europa war die Vorstellung von der Abstufung aller Verhältnisse nach Rängen, im Himmel wie auf Erden, in der Kirche und im Staat, also auch in Bau- und Bildkunst, in Kleidung und Schmuck, so tief verwurzelt, dass man sich über sie als eine Selbstverständlichkeit kaum äußerte. Doch spürt man an der Heftigkeit der Kämpfe um Rangfragen, wie wichtig sie waren.
Schwierigkeiten bereitete die Übertragung der Begrifflichkeit der Redekunst (und der verwandten Poetik) auf die Bildenden Künste. So wie die Malerei keine Versmaße kennen kann, so schwer fällt ihr etwa die Übernahme der sog. Redefiguren. Die Bildenden Künstler hatten nach Äquivalentien (Gleichwertigem) zu suchen. Dabei musste man sich auf eine zuweilen dürftig erscheinende Weise behelfen: Beliebt war die Rangbestimmung durch das Mehr oder Weniger an Verzierung, auch durch die Verwendung von Gold (oder nicht) sowie verschieden kostbare Farbpigmente. Man sah auch in der Zahl der Figuren, der Menge der dargestellten Dinge, sogar dem künstlerischen Aufwand ein Kriterium. Bildhauer und –Schnitzer nutzten die Plastizität als Mittel der Rangstufung, so den Dreischritt 'Flachrelief - Hochrelief – vollrunde Figur' (Abb. 1). Die Architekten bedienten sich u.a. unterschiedlich reich gebildeter Profile und Ornamente zur Darstellung der Bedeutung eines Baues oder Bauteiles; erst recht verfügten die Baumeister nach 1500 im System der Säulenordnungen über ein geeignetes, der Rhetorik nahe stehendes Mittel, Rang und Würde angemessen auszudrücken.
Von einer guten Rede wurde gefordert, dass alle drei Stile abwechseln. In einer weit verbreiteten Predigtlehre heißt es: Den niedrigen Stil soll der Prediger gebrauchen, wenn die Lehre erklärt wird, den mittleren, wenn er lobt oder tadelt, den feierlichen, wenn er von der Ehre Gottes spricht. Analogien sind etwa beim Kirchenbau in der Steigerung vom Langhaus zu Chor und Sanktuarium auszumachen. Auch ist bei den Flügelretabeln des Spätmittelalters zu bemerken, dass deren Schreinskulpturen in erhabenem Pathos gestaltet werden, die Außenflügel aber wirklichkeitsnah erzählend, mit verschiedenen Übergängen (Abb. 1).
Die Kenntnis dieser Lehre ist für das Verständnis der Künste vor 1800 wichtig, als Teil ihrer Theorie wie ihrer Praxis. Sie beinhaltet eine höhere Rationalität künstlerischen Tuns, als man im Zeitalter der Moderne, dessen Kunstauffassung von der 'Genie-Ästhetik' geprägt ist, zuzugeben pflegt. Albrecht Dürer forderte z.B. vom Maler: "Idoch soll ein jtlicher künen machen ein pewrisch vnd ein adellich billd. Dan vill mittell messiger pild [d.h. in der mittleren Stillage] sind dortzwischen zw findn, vnd es ist awch ein grosse kunst, welcher jn groben pewrischen dingen ein rechten gewalt vnd kunst kan antzeigen vnd recht prawchen." (H. Rupprich: Dürer - Schriftlicher Nachlaß, Bd. III, Berlin 1969, S. 277). Virtuos demonstrierten einige Künstler, dass sie nebeneinander zwei unterschiedliche Stile beherrschten, so Joos van Cleve im Münchner Triptychon des Marientodes (Abb. 2).
Die Lehre von den Stillagen war kein festes System, sondern eher eine Anleitung zum differenzierenden, dabei aber freien künstlerischen Gestalten. Auf dem Höhepunkt ihrer Wirksamkeit, im 18. Jahrhundert, kann man bei großen Bauensembles, wie z.B. Kloster Ottobeuren, Dutzende von Rangabstufungen etwa der Innenausstattung bemerken. Doch ebenso wie die Revolution von 1789 das hunderte von Rängen unterscheidende Zeremoniell der alten Hofgesellschaft aufhob und die 'Gleichheit' propagierte, verwarf man das System der Stillagen und mit ihm die Rhetorik insgesamt – sie wurde durch die Ästhetik ersetzt. Ihre Stilmittel erschienen nun künstlich und überladen. Die Lehre geriet in Vergessenheit. In der Praxis blieben ihre Prinzipien jedoch lebendig, wenn auch unter anderem Namen: So folgte z.B. die Unterscheidung der Gattungen der Landschaftsmalerei in heroische, idyllische sowie Vedute folgt im Grunde dem Denkmodell der drei Stilstufen.

B. Andere Bedeutungen des Stilbegriffs - Persönlicher Stil, Zeitstil, Nationalstil
            Schon früh erfuhr der Begriff  'Stil' Erweiterungen und Umdeutungen, in denen sich der heutige kunsthistorische Gebrauch anbahnt. Die persönlichen Vorlieben und charakteristischen Züge, die sich in allen Werken eines Künstlers auf die eine oder andere Weise zeigen, wurden unter dem Begriff des 'persönlichen Stils' erfasst. Andeutungen dieses Sprachgebrauchs finden sich schon bei dem antiken Rhetoriker Quintilian (Buch XII der Institutiones Oratoriae). Er ging ineins mit der Stillagen-Theorie; dies zeigt Melanchthons Charakterisierung der größten deutschen Maler seiner Zeit: Dürer repräsentiere den Hohen Stil, Cranach den Mittleren und Mathis (d.h. Grünewald) den niederen (Rupprich a.a.O., Bd. I, S. 306). Die italienische Kunstkritik des 17.-18. Jahrhunderts machte dann das Persönliche des Stils großer Künstler zu einem ihrer Hauptthemen. Der zeitgleich entstehende neue Typus des 'Kenners' (s.u.) war vor allem am Aufspüren der 'persönlichen Handschrift' und der Würdigung der Individualität künstlerischer Leistung interessiert (s.u. Kap. F). Der Stil einer Persönlichkeit und ihres Schaffens erschienen auf irrationale Weise miteinander verwoben, wie der berühmte Ausspruch des Comte Buffon in seiner Rede aus Anlass der Aufnahme in die Académie Française im Jahr 1753 zeigt: "Le style c'est l'homme même."
            Ebenso früh deutet sich die Idee eines Zeit-Stils an, so wenn der Florentiner Dichter Dante Alighieri den Stil, den er und seine Gefährten in ihrer Jugend in die italienische Literatur (und letztlich auch die Kunst) eingeführt hatten, als 'dolce stil nuovo' benennt (Divina Commedia, Purgatorio XXIV, 57); aus dem Kontext wird jedoch deutlich, dass er selbst ihn für eine neue Form des mittleren Stiles hielt.
            Auch kunstgeographische Stilbegriffe tauchen bereits früh auf, meist bezogen auf eine für ein Land eigentümliche Technik: so wird um 1300 eine englische Art der Seidenstickerei 'opus anglicanum' genannt und - aus deutscher Sicht - die neue französische Haustein-Baukunst 'mos francigenus'. Auch die - diffamierende - Benennung der älteren Baukunst Italiens durch die Künstler um 1500 als 'gotisch' verbindet einen Baustil mit einem fremden Volk und seinem Land. Die italienische Kunstgeschichtsschreibung führte auch den Begriff der 'Schule' zur Benennung der lokalen Zusammengehörigkeit von Künstlergruppen ein, wie z.B. der Venezianer und Florentiner.

C. Stil als 'Qualität'
            Ein anderer, noch heute gebräuchlicher Begriff von Stil fasst ihn als Qualitätskriterium im Sinne höchster künstlerischer Geschlossenheit auf. Auch dieser Begriffsgebrauch wurzelt in der antiken Rhetorik. Im Zeitalter des Absolutismus wurde die Vorstellung von der Einheit des Kunstwerks erweitert zu der Einheit aller künstlerischen Äußerungen eines größeren Ensembles, z.B. des Schlosskomplexes von Versailles, ja sogar sämtlicher Äußerungen dieser nach Einheitlichkeit der Erscheinung strebenden Gesellschaft. Hier bahnt sich die moderne Vorstellung von dem in sich geschlossenen Stil jeder Epoche und Kultur an. Thematisiert wird dieser Begriff in der italienischen Kunsttheorie etwa in den Vite de' Pittori, Scultori e Architetti Moderni des Pietro Bellori 1672.
Die Verwendung des Begriffs als Ausdruck höchster Perfektion wie Geschlossenheit der künstlerischen Äußerungen steht zunächst noch in einer Reihe mit anderen, eher charakterisierenden Stil-Begriffen, wie z.B. natürlich, dunkel usw. Die Begriffe 'Stil' und 'Manier' wurden synomym gebraucht, bis Goethe sie in seinem Aufsatz 'Nachahmung der Natur, Manier, Stil' scharf voneinander absetzte: "Stil [ist] der höchste Grad, wohin sie [d.h. die Kunst] gelangen kann ... so ruht der Stil auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge ...". Stil in diesem Sinne wird nicht nur auf das einzelne Kunstwerk oder das Schaffen eines Künstlers bezogen, sondern wurde auch verallgemeinert. Diese Auffassung hat sich sogar in populären Redewendungen wie "Das hat Stil!" festgesetzt. Hierbei mag eine Rolle gespielt haben, dass in der Spracherziehung 'Stil' synonym wurde für 'Gutes-Deutsch-Schreiben'. 'Stil' wurde zum System von Normen und Vorschriften. Deshalb erschien er etwa aus romantisch-kritischer Sicht nur als aufgezwungenes klassizistisches Schönheitsideal, als etwas nur äußerlich Schönes, Gekünsteltes.

D. Die Epochen-Stilbegriffe
            Johann Joachim Winckelmann, Sohn eines Schusters aus Stendal in der Altmark, der zum Bibliothekar des Kardinals Albani in Rom aufstieg, gab in seiner bahnbrechenden, 1764 veröffentlichten Geschichte der Kunst des Altertums dem Begriff Stil einen neuen Sinn, und zwar als historische Kategorie zur Kennzeichnung der inneren Einheitlichkeit aller Gestaltungen eines Volkes in einer Epoche. Anregungen für diese paradigmatische Wende der Geschichtsauffassung bezog er aus der 'Scienza nuova' des Neapolitaner Philosophen Giambattista Vico und verschiedenen französischen Autoren. Die Vorstellung von den Stilepochen und das Geschichtsverständnis, welches man als Historismus bezeichnet, entstehen gemeinsam und aus derselben Grundanschauung, dass nämlich jede Epoche etwas in sich Abgeschlossenes und (mit denWorten Leopold v. Rankes) "unmittelbar zu Gott sei". Historismus heißt, die Zyklopenmauern von Mykene, den Kölner Dom, Schloss Versailles und das Bauhaus jeweils als Werke eigenen Rechtes zu betrachten; wir hören Musik Mozarts oder Verdis, als gehörten beide der Gegenwart an.
Winckelmann war zugleich Wortführer des Klassizismus und wertete noch die Kunst der verschiedenen Epochen und Völker. Er brachte die Geschichte der griechischen Kunst in eine als Aufstieg und Verfall begriffene Abfolge von fünf Epochen-Stilen: "älterer Stil, großer oder hoher Stil, schöner Stil, Stil der Nachahmer, Fall". Anderenorts unterscheidet er "vier Stufen des Stils, nämlich den geraden und harten, den großen und eckigen, den schönen und fließenden, und den Stil der Nachahmer". Seine Terminologie besteht also meist aus bildlichen Redewendungen, wie sie die Kunstkritik gebrauchte. Sie gehören verschiedenen Betrachtungsweisen an: zeitliche Begriffe stehen neben solchen aus der Stillagenlehre; hinzutreten die schon von einigen Renaissance-Historikern geschätzten biologischen Metaphern. Das eigentlich Neue war die Schaffung autonomer, vom Verlauf der politischen Geschichte nicht mehr direkt abhängiger, kunsthistorischer Epochenkategorien. Winckelmanns Schriften wurden binnen kurzem in alle Kultursprachen übertragen und übten einen sehr großen Einfluss aus.
Seitdem ist von 'dem' Stil eines Zeitalters die Rede, wie man ja damals auch von 'der' Kunst zu sprechen begann, nicht mehr von den unterschiedlichen Künsten. Die Idee der Einheitlichkeit jeder Epoche versuchte der Philosoph Georg Friedrich Hegel mit dem Begriff des 'Zeitgeistes' zu fassen, der sich in den verschiedensten kulturellen Erscheinungen manifestiere. Die Kunstgeschichte wurde immer weniger als eine Geschichte der Werke und Techniken begriffen, auch nicht als eine der Künstler und ihrer Auftraggeber, der Intentionen und Funktionen, der bevorzugten Themen und Aufgaben, sondern als Ergebnis einer immanenten 'Entwicklung'. Während bei Winckelmann Stil noch als Ausdruck der ganzen Kultur erscheint, in der sich u.a. Klima, Wirtschaft, Verfassung, Religion und Geistesleben auswirken, wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Stile zunehmend nach formalen Merkmalen definiert und generalisiert, dem Vorbild naturwissenschaftlicher Klassifikation folgend. Zugleich gewannen biologische Denkmuster das Übergewicht: Die Geschichte der Kunst wurde als naturnotwendig ablaufender Wachstumsprozess verstanden, wonach etwa die sterbende 'Spät-Romanik' abgelöst wird durch die aufblühende 'Früh-Gotik' usw.
Diese Kunstgeschichts-Wissenschaft mit universalgeschichtlichem Anspruch setzte ihre Epochen-Stilbegriffe mit solchem Erfolg durch, dass sie von vielen Nachbarfächern übernommen wurden und sogar die traditionelle Epochengliederung der Historiker zu verdrängen begannen. Die Vielfalt (und Widersprüchlichkeit) der Geschichte wich einem Ersatzsystem, das immer griffiger, aber auch wirklichkeitsferner wurde, so dass schließlich die Geschichte der Künste nur noch als Wechsel von 'malerischen' und 'flächigen' (Wölfflin) bzw. 'optischen' und 'haptischen' (Riegl) bzw. 'additiven' und 'divisiven' Stilepochen (Frankl) erschien. Aus einer derart objektfernen, nur am Allgemeinen interessierten Sicht verschwanden auch die Künstler hinter einer 'Kunstgeschichte ohne Namen' oder wurden zu Marionetten der 'Stil-Entwicklung' und des 'Zeitgeistes'.

E. Die Stilbegriffe heute
            Unabhängig von den Epochen-Stilbegriffen, ja geradezu im Widerspruch zu ihnen, erlebte 'Stil' in der Moderne als Begriff der persönlichen Eigenart eines Künstlers einen Aufschwung eigener Art. Die Auffassung vom künstlerischen Schaffen veränderte sich durch den Kult um das Genie als 'Schöpfer aus sich selbst heraus'. Da Kunst als etwas Höheres vom Handwerk geschieden wurde, der Künstler kaum noch für Auftraggeber arbeitete, sondern für den Kunstmarkt, wuchs mit zunehmender Vermarktung der Druck auf ihn, sich einen nur ihm eigenen, unverwechselbaren Stil anzueignen, gleichsam als Markenzeichen. Hatte er Erfolg, wurde er an diesen Stil geradezu festgekettet. In der Wissenschaft hingegen wurde der 'persönliche Stil' eher als ein psychologisch zu deutendes Phänomen betrachtet. Biographisch-psychologisierende Kategorien wurden eingeführt, wie die des 'Altersstiles' (A.E. Brinckmann), oder sozialpsychologische, wie die des 'Generationenstils' (W. Pinder).
Noch einschneidender war die Veränderung der kunstgeographischen Begriffe unter den Impulsen des seit Mitte 19. des Jahrhunderts anschwellenden Nationalismus. Von den Kunsthistorikern wurde nationale Mythenbildung verlangt. Dies förderte Manipulation und Ideologisierung: In dem einflussreichen Buch von Artur Moeller van den Bruck Der Preußische Stil (Berlin 1916) wird die Auffassung von Stil als (ethischer) Qualität zu "Stil ist Gesinnung" umgemünzt – und sowohl zur Uniformisierung wie zur Ausgrenzung benutzt. Erst recht forcierte das Dritte Reich die Vorstellung, dass die 'neue Gesinnung' auch in einem neuen 'Einheits-Stil' Ausdruck finden müsse: der Gleichschaltung der Menschen entspricht die Egalisierung der Bauten und Kunstwerke. Doch wurde der programmatische, nationalistisch propagandistische Rückgriff auf bestimmte Stile der Vergangenheit schon im späten 19. Jahrhundert praktiziert: In den Städten, die 1864 den Dänen entrissen wurden, wie z.B. Flensburg, ersetzte man gerne klassizistische Bauten aus dänischer Zeit durch neu-hanseatische - vermeintlich deutschere -  im Stil der Lübecker Baukunst des 16.-17. Jahrhunderts; in Wahrheit ist weder der eine noch der andere Stil 'national'.
            Nach 1945 hat man zunächst versucht, den missbrauchten Nationalstil-Begriffen die ideologische Spitze zu nehmen, indem man sie regionalisierte, ohne zu bemerken, dass die Herausdestillierung etwa des 'Westfälischen in der Kunst' (P. Pieper) auf ähnlich irrationalen und ideologischen Prämissen beruht wie der nationalistische Ansatz, der das "Wesen und Werden deutscher Formen" (W. Pinder) thematisierte.
Inhalt und Gebrauch der Stilbegriffe sind also zumindest indirekt abhängig von den jeweiligen Zuständen der Gesellschaft und von ihrer Kunstpraxis: So bemühte man sich in der Zeit des Jugendstils bevorzugt um die Analyse und Geschichte des Ornaments und der naturumformenden Stilisierung. Einige der wichtigsten künstlerischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, sowohl avantgardistische wie antimodernistische, versuchten einen neuen Einheitsstil zu schaffen und durchzusetzen, wobei die Richtungen einander naturgemäß nicht tolerierten. Das Ergebnis war nach dem Versuch der Fünfziger Jahre, mit der Abstraktion bzw. der Neo-Bauhaus-Moderne einen nordatlantischen Einheitsstil durchzusetzen, erst der Stil-Pluralismus, zuletzt aber die totale Stillosigkeit des letzten Jahrhundertdrittels. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass jeder Versuch, die alten Stilbegriffe wieder aufleben zu lassen, scheiterte. Zwar bot die Vorstellung vom 'Stilpluralismus' eine Alternative zur Idee des 'Einheitsstils', doch ist auch sie allzusehr von modernen Anschauungen bestimmt und bleibt letztlich für die Deutung älterer Kunst unbrauchbar, weil die europäische Gesellschaft vor 1789 nie wirklich pluralistisch war.

F. Stilkritik
Es gehört zu den erstaunlichen Fähigkeiten des menschlichen Geistes, dass er eine ihm vertraute Handschrift in Sekundenschnelle und mit hoher Sicherheit wiederzuerkennen vermag. Ebenso kann das trainierte Auge des 'Kenners' Werke ihm gut bekannter Künstler auf den ersten Eindruck hin identifizieren und obendrein 'Qualitäten' aufspüren, etwa ob es sich um eine Jugendarbeit bzw. um ein eigenhändiges Werk handelt oder nicht. Die 'Kenner' bilden einen eigenen Berufszweig, der vor allem in Museen und im Kunsthandel tätig ist. Voraussetzung dafür ist vor allem praktische Erfahrung und ständiges Training, weniger wissenschaftliche Forschung. Dass Kennerschaft jedoch eine methodisch betriebene Stilkritik als Korrektiv benötigt und auf kunsthistorischer Bildung fußen muss, hat der sog. Holbeinstreit im 19. Jahrhundert bewiesen: Die Gemäldegalerie Dresden zählte zu ihren berühmtesten Schätzen die von Hans Holbein d.J. in den Jahren 1526-1528 für den Basler Bürgermeister Meyer gemalte Madonnentafel. 1822 tauchte im Pariser Kunsthandel ein zweites Exemplar auf, das nach Darmstadt gelangte und einen Streit auslöste, welches Bild das Original sei (Abb. 3, 4). Als 1871 in Dresden beide Werke nebeneinander ausgestellt wurden, spalteten sich die versammelten Kenner in zwei Parteien. Die eine, von Künstlern dominiert, ging von ihrem Schönheitsempfinden aus und favorisierte das Dresdner Bild; die andere, von kunsthistorisch geschulten Kennern angeführt, votierte für das Darmstädter Exemplar - und bekam recht. Spätere Forschung brachte heraus, dass die Dresdner Tafel im Jahre 1637 von Bartholomäus Sarburgh in Amsterdam gemalt worden war.
Die 'Dresdner Partei' vertraute zu sehr dem eigenen Kunstempfinden, während die andere Gruppe ein Urteil auf der Basis genau durchgeführter Vergleiche und kunsthistorischer Methoden-Reflexion erarbeitet bzw. abgesichert hatte. Die Künstler waren nicht in der Lage, die nötige Distanz zu ihren zeitbedingten Überzeugungen zu gewinnen; sie taugen also zur Kennerschaft nur bedingt, so viel sie auch von Kunst und Maltechnik verstehen mögen. Der Kenner muss künstlerisch empfänglich sein, bleibt aber Betrachter, der selbst nicht produktiv ist, außer als Schriftsteller, wie etwa Max Jakob Friedländer.
Die Kenner kümmern sich traditionell wenig um Methoden und Theorien. Doch wird man 130 Jahre nach ihrem Sieg im Holbein-Streit sagen müssen, dass die jede kunsthistorische Reflexion ablehnende Kennerzunft bei der Lösung einiger zentraler Zuschreibungsprobleme spektakulär gescheitert ist, auch da, wo sie sich zusätzlicher technischer Informationen bedient, wie der Sichtbarmachung von Unterzeichnung durch Infrarot-Reflektographie: Offen bleibt in der nordalpinen Malereigeschichte des 15. Jahrhunderts die Trennung der Anteile von Hubert und Jan van Eyck im Genter Altarretabel, ebenso die Bestimmung der wirklich eigenhändigen Werke von Robert Campin, Rogier van der Weyden, Dirk Bouts, Albrecht Dürer und vielen anderen. Mit einer ausschließlich intuitiven Erfassung formaler Qualitäten ist kein tragfähiges Urteil zu erreichen, insbesondere dann nicht, wenn Künstler fähig sind, sich bis zur Mimikry anzupassen und in verschiedenen Stilen zu malen. Dann muss der Kenner zum Kunsthistoriker werden, muss die Vorstellungen, die er sich vom jeweiligen Künstler und seiner Epoche macht, reflektieren und alle Urteile auf eine historisch begründete Basis stellen. Er hätte die Biographik von der Werkanalyse zu trennen: Denn ein altes Bild von Anspruch ist nicht nur Produkt der 'Handschrift' eines Künstlers, sondern folgt eigenen, durch Gattung, Thema und Aufgabe bedingten Forderungen, die mitbedacht werden müssen.

G. Ausblick
            Der Stilbegriff als gleichsam geschichtsphilosophische Kategorie ist überlebt. Dies ist jedoch eine Chance, die historischen Stilbegriffe kulturhermeneutisch wieder in Gebrauch zu nehmen, so etwa die Lehre von den Stillagen, die als Teil der Mentalität des vormodernen Europa für die Analyse von Erzeugnissen dieser Kulturepochen brauchbare Gesichtspunkte bietet. Auch die alte Vorstellung, dass der Stil eines Werkes durch die Traditionen der Aufgaben, Gattungen und Materialien sowie Techniken geprägt wird, ist realitätsnah.
            Der Blick in die Geschichte zeigt, dass man immer wieder Gestaltungsweisen durch Vorschriften festlegte, oft nur für einen bestimmten Bereich: so schuf man etwa für die Erstellung von Herrscher-Urkunden den 'Kanzleistil', der sich - auch nach außen sichtbar - durch eine Reihe von Eigenheiten von der übrigen Praxis absetzte (am päpstlichen Hof den 'Kurialstil'). Es ist nach vergleichbaren Phänomenen in der Kunstgeschichte zu fragen. Dazu gehören die verschiedenen Arten der Umprägung natürlicher Formen, die man als 'Stilisierung' bezeichnet. Sehr geläufig ist sie in der Heraldik, prägte aber als künstlerische Haltung weite Bereiche der Kunstgeschichte, vor allem das erste nachchristliche Jahrtausend und insbesondere die byzantinische Kunst.
Es gab an vielen Fürstenhöfen einen 'Hofstil', d.h. ein Bündel von mehr oder weniger festgelegten Normen und Vorschriften. Ein Thronwechsel konnte zur Ablösung des alten Stils durch einen neuen führen. Überhaupt hatte sich die alte europäische Gesellschaft eine Vielzahl von Normen auferlegt, die zu unterscheiden wären in Regeln, die von außen gesetzt werden, und Gewohnheiten, die Teil der Mentalität geworden waren. Zu ihnen gehört u.a. das aus der Antike übernommene, für das künstlerische Schaffen als allgemeingültig erachtete Prinzip der 'variatio' (Abwechslung), wonach kein Kunstwerk dem anderen gleichen solle. Der Anpassungszwang war je nach Epoche und Kulturkreis verschieden. Die Künstler hatten einen gewissen Freiheitsspielraum. Die Autorität des Alten war anzuerkennen, aber die Schaffung des Neuen, sogar des umstürzlerisch Neuen, nicht ausgeschlossen.
Hinzukommt, was man mit 'Mode' umschreibt, eine nur selten verpflichtende, aber von der Mehrheit der Gesellschaft freiwillig nachvollzogene, wechselhafte Gestaltung der äußeren Formen, wie Kleidung und Rüstung, aber auch der Inneneinrichtung der Häuser, mit individuellem bzw. gruppenspezifischem Spielraum. Mode ist jedoch mehr als nur ein willkürlicher Wechsel der Vorlieben: Mode ist Ausdruck einer inneren Haltung. Die Gesamtheit aller dieser Normen und Gewohnheiten kann man als Stil definieren. Diese Stile sind zeitlich und örtlich begrenzt. Stile können aber auch Partei- und Gruppencharakter haben.
Stil in diesem Sinne ist keineswegs - wie oft behauptet wird - nur Form, sondern schließt die bevorzugten Aufgaben, Themen, Materialien etc. ein; man kann ihn auch als Vorherrschen einer bestimmten Geisteshaltung und Weltanschauung bezeichnen; d.h. Stil kann nicht unabhängig von Wissenschaft und Religion, dem Bewusstsein der Gesellschaft bzw. der Personen definiert werden, letztlich auch nicht unabhängig von den ökonomischen und politischen Verhältnissen. Den Stil eines Kunstwerks zu analysieren, heißt also, die künstlerischen Prinzipien und Normen des Verfertigers, aber auch die der ihn tragenden Gesellschaft in seiner Zeit aufzuspüren, die Prägung durch das Thema, die Nutzungsabsichten und deren Traditionen, letztlich sogar die Erwartungen der Betrachter, für die das Werk konzipiert wurde.
Die Stilanalyse heutigen Zuschnitts hat sich also sowohl von der formalistischen Einengung des Stilbegriffs zu lösen wie von der dahinter stehenden Vorstellung der Autonomie des Kunstwerks. Die alles einebnenden und vergewaltigenden Einheitsbegriffe sind ebenso wie die vom naturgeschichtlichen Verlauf der Kunstgeschichte als ideologische Wunschbilder der Moderne, die sie auch in die Vergangenheit zurückprojiziert hat, aufzuspüren und zu kritisieren. An ihre Stelle hat die konkrete, menschen- und werknahe, historische Betrachtung zu treten, die Vereinheitlichung und Ewigkeits-Begriffe scheut, wohl aber Gespür entwickelt für die Umbrüche und Widersprüche, für die Vielfalt der Kunst, ihren 'Sitz im Leben' und nicht zuletzt für die jeweils unterschiedlichen Möglichkeiten der Individuen, sich zu entfalten.

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