14.11.10

Zum Körper- und Wirklichkeitsverständnis der frühen niederländischen Maler

[i](zuerst veröffentlicht in: Klaus Schreiner u.a. (Hg.): Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München 2002, 271-297


            Der Colloquiumsband "Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit"[ii] macht einmal mehr deutlich, daß die Kunsthistoriker Fragestellungen ignoriert haben und ignorieren, für deren Untersuchung sie durch ihren vertrauteren Umgang mit Bildern eigentlich bessere Voraussetzungen haben als die Nachbarwissenschaften. Zu spät ist es jedoch noch nicht. Sie könnten mit den ihnen eigenen Methoden und Vorstellungen für diesen Themenbereich einen anderen Denkansatz bieten. Die Einleitung zum oben genannten Band enthält den programmatischen Satz: "Es wurde versucht, das Bild als gleichrangige Quelle neben schriftlichen Zeugnissen ... nutzbar zu machen." Die Lektüre mancher Beiträge löst jedoch bei Kunsthistorikern ein gewisses Unbehagen aus, zumal der hohe Grad an Verallgemeinerung. Vor allem aber wird die Art der Nachbarwissenschaftler, Kunstwerke als Zeugnisse, ja als verläßliche Quellen für die Erkenntnis der damaligen Wirklichkeit zu nehmen, dem methodisch bewußten Kunsthistoriker zum Problem.
            Zwar ist Verallgemeinerung gerade auch in der Kunstgeschichtsschreibung sehr häufig: Es geht den meisten Wissenschaftlern mehr um das Typische, um die 'Strukturen', die 'Entwicklung' oder wenigstens die Tendenzen der Epoche, die Geschichte ohne Namen. Einzelperson und Einzelwerk schwimmen und verschwinden in einem breiten Strom, der schon von vorneherein den Eindruck von Einheit und Gerichtetheit macht. Die Epochen- und Global-Begriffe tun das Ihre, die Suggestion der Einheitlichkeit zu verstärken. Aber die Fachwissenschaft Kunstgeschichte ist durch viele tausende von feinen Fäden mit der Kunst verbunden; und in der dreht sich nach wie vor alles um den (genialen) Einzelkünstler, bis hin zu der Überspitzung „Kunst ist, was Künstler machen." Gegen den Biographismus regt sich im Fach selbst eine vielstimmige Opposition. Doch ist es immer gefährlich, sich von Strömungen und Stimmungen hinreißen zu lassen. So wäre etwa zu fragen, ob man in der Kunstgeschichte des 15. Jahrhunderts die Künstlerindividuen übergehen darf, in einer Epoche also, die wie keine andere Individualität gewürdigt, ermöglicht, ja gefordert hat? deren Kunstgeschichte eben doch wesentlich eine Geschichte individueller Lernschritte und Leistungen, ja des Dialogs der Hauptkünstler miteinander ist? Wer wissen will, "wie es eigentlich gewesen ist", kann eine ins Grundsätzliche gehende Beschäftigung mit diesem Problem nicht auslassen.
            Eine historisch angemessene Betrachtung darf sich jedoch nicht damit begnügen, das Werden und die Rolle der Künstlerpersönlichkeit zu reflektieren. Inzwischen ist klar, daß die seit dem 19. Jahrhundert zur Gewohnheit gewordene Subsumierung der Bilder unter ihre Schöpfer für das vorrevolutionäre Europa nicht aufgeht, weil sie die moderne Situation des autonomen, auf seine Subjektivität zurückgeworfenen Künstlers rückprojiziert, der Bilder nur aus sich heraus schafft, ohne daß sie je eine andere Funktion bekämen, als in Sammlungen und Museen gezeigt zu werden. In der vor-modernen Kunst ist, gerade auch bei den großen innovativen Meistern, das Bild als Einzelwerk von viel größerer Bedeutung, gleichsam als 'Ikone', d.h. durch das Gewicht des dargestellten Gegenstandes und durch seine Bedeutung im religiösen und allgemein-gesellschaftlichen Rahmen. Die Künstler hatten bei der Konzeption ihrer Bilder deren jeweils unterschiedliche Funktion und Ranghöhe zu beachten. Bilder fußten auf Traditionen, etwa des Bildtypus, den wir mit Jakob Burckhardt auch 'Aufgabe' nennen, kurz: sie unterlagen einer Vielzahl von jeweils eigenen Anforderungen und Konventionen. Außerdem wollte jedes Werk von Anspruch Kunst in einer uns heute nicht mehr selbstverständlich einsichtigen Weise sein; dieser theoretische Anspruch ist ernst zu nehmen, ehe das Bild als historische Quelle verfügbar wird.[iii]
            Die Bilder der altniederländischen Maler sind seit jeher wegen ihrer minutiösen Naturwiedergabe berühmt; sie stehen paradigmatisch für 'Realismus'. Sie sind aber weiterhin 'ikonisch' und themenbezogen, sie sind, mit Erich Auerbach zu reden,[iv] „dargestellte Wirklichkeit", ja Konstruktionen von Wirklichkeit und zugleich Anweisungen, die Welt zu deuten und sich in ihr auf eine bestimmte Weise zu verhalten. Gleichwohl bieten sie, recht betrachtet, unschätzbare Aufschlüsse über das Verhältnis zur Wirklichkeit und auch zur Auffassung der Körper.
            Ein für die Einschätzung des Körpers in der mittelalterlichen Frömmigkeit zentrales Thema ist die Inkarnation, d.h. der Fleischwerdung des Logos aus der Jungfrau; der eigentliche Moment der Menschwerdung Gottes ist die Verkündigung an Maria am 25. März. Es ist der höchste Feiertag innerhalb der Fastenzeit, weshalb viele Flügelretabel, die während dieser Zeit geschlossen sind, dies Bild auf ihren Außenseiten zeigen. Es ist auch das christliche Frühlingsfest. Aus diesen Gründen wurde vielerorts der Jahresbeginn auf diesen Zeitpunkt gesetzt.[v]
            Was dieser Themenbereich an interessanten Aspekten hergibt, sei in einer Art Präludium an einem Beispiel skizziert. Es gibt eine bis mindestens ins 12. Jahrhundert zurückreichende Bildtradition, dergemäß die Wirkung der Empfängnis sofort sichtbar wird, die Verkündigungs-Maria also schwanger erscheint. Anscheinend war es gegenüber den manichäisch-katharischen Tendenzen der Spaltung von Geist und Körper und der Leugnung der Menschnatur Christi erwünscht, die Schwangerschaft Mariens zu verdeutlichen. Ein prägnantes Beispiel ist die Skulpturengruppe aus der Nürnberger Frauenkirche der Jahre 1353-1356.[vi] Der Leibesfülle nach steht Maria kurz vor der Niederkunft. Doch gibt es keinen Zweifel: Dies ist eine Verkündigungsmaria, nicht die in dieser Zeit beliebt werdende 'Maria in der Hoffnung'. Eine derartige Hervorhebung der Körperrundung wie der Körperfülle ist typisch für die Jahre der Schwarzen Pest. In dieser Zeit, der ja auch das Decamerone des Giovanni Boccaccio entstammt, setzt sich für beide Geschlechter eine hocherotische, den Körper in seinen Rundungen wie überhaupt in seiner sinnlichen Erscheinung betonende Mode durch, mit tiefen Ausschnitten für die Frauen, kurzen Lendnern für die Männer, engen Schnürungen und vielen künstlichen Polsterungen.[vii]         Man ist versucht, hier von einer frührenaissance-artigen Körperlichkeit zu sprechen. Doch ist die Geschichte der Körperlichkeit, insbesondere die bei Bildern der Verkündigung, viel zu kompliziert, um so begrifflich gefaßt werden zu können. Zwar zeigen die Kunstwerke der folgenden Jahrzehnte kaum jemals wieder bis zum frühen 16. Jahrhundert die Körperlichkeit der Madonna so unmittelbar; demnach hätte es anscheinend ein Roll-Back gegeben, die etwa an der Kritik der Reformatoren vom Schlage des Matthias von Janov an der Sinnlichkeit der Bilder festzumachen wäre. Andererseits sind die literarischen und bildlichen Zeugnisse keineswegs eindeutig, wie u.a. die Lyrik des Oswald von Wolkenstein belegen kann.
Dieser Umbruch der Körperauffassung um 1350 sowie die anschließende Reaktion ist in der wissenschaftlichen Literatur außerhalb der Kunstgeschichte kaum wahrgenommen worden: Zu einseitig war man auf einen Entwicklungsprozeß vom Mittelalter zur Renaissance fixiert, um die erstaunlichen Schwankungen wahrzunehmen, von der die Kunst Zeugnis ablegt.[viii] Insofern könnte die Kunstgeschichte helfen, ein differenzierteres und weniger teleologisches Bild zu zeichnen. Man hat jedoch - so zeigt die Kunstgeschichte auch - bei der Deutung der Bilder als direkt verwertbare Zeugnisse für den Wandel der Körper- und Wirklichkeitsauffassung vorsichtig vorzugehen. Offensichtlich hat also die Kunst ihre eigene und komplexe Körpergeschichte, weil ihre Bedingungen eigene waren.
            Das 1432 vollendete Genter Altarretabel der Brüder Hubert und Jan van Eyck zeigt bei geschlossenen Flügeln im oberen Register eine Verkündigung in Grisaille-Malerei; oben war auf die Funktion als Festbild der Fastenzeit hingewiesen worden.[ix] Betrachtet man nur die Figuren, so sind Köpfe und Hände zwar körperlich, doch sind die Körper durch die Gewänder völlig zugedeckt; allenfalls erahnt man, wie sich unter dem Gewand Arme und Beine regen und seinen Verlauf mitbestimmen. Die Gewänder sind zudem sehr durchschluchtet und geben den Gestalten eine geradezu ausgezehrte Erscheinung. Doch sind auf demselben Retabel die Ureltern Adam und Eva mit höchster Körperpräsenz wiedergegeben, so daß man nicht verallgemeinernd von Körperfeindlichkeit sprechen kann. Das zerstörte, in einem Galeriebild des frühen 17. Jahrhunderts aber deutlich erkennbare, Bild Jan van Eycks einer sich waschenden nackten Frau mit Dienerin würde sogar eher für das Gegenteil sprechen.[x] Man kann zwar das Argument anführen, daß der Genter Verkündigung als einer Grisaille nicht die volle räumliche Entfaltung zukam. Aber was macht man dann mit der kostbaren, farbigen eyckschen Verkündigungstafel in Washington, bei der Engel wie Maria geradezu entkörperlicht erscheinen?[xi] Wie löst sich der Widerspruch?
            Zunächst möchte ich exkursartig auf die das ganze Mittelalter über gültige Reserviertheit gegenüber sinnlich aufreizenden Bildern hinweisen. Erotische Darstellungen gab es, aber sie waren in niedrige Bereiche abgedrängt, finden sich bei Wasserspeiern, Konsolen, den Misericordien der Chorgestühle, auch an den Rändern der Handschriften usw. Manche waren sehr drastisch und gingen deshalb in den puritanischen Säuberungen seit dem 17. Jahrhundert verloren;[xii] aber sie waren eindeutig abwertend gekennzeichnet. Es hat wohl kaum in der Kunst etwas der offenen, positiven Erotik der Dichtung des 12.-14. Jahrhunderts Vergleichbares gegeben: Wegen der Macht des Auges über die Menschen, die immer als größer eingeschätzt wurde, als die des Ohres, lag die Tabuschwelle für Bilder grundsätzlich höher; die Augen mußten 'behütet' werden. Kunst war aber in einem höheren Grad öffentlich als Literatur. Erst als eine private Sphäre ausgegrenzt wurde, konnte es auch positiv gemeinte erotische Bilder geben - so die oben genannte Tafel Jan van Eycks.
            Doch wird damit die Widersprüchlichkeit der Körper- und Wirklichkeitsauffassung bei van Eycks nur größer. Um die Diskussion weiterzubringen, möchte ich das Bild der Verkündigung mit einem etwa 20 Jahre jüngeren Bilde Rogier van der Weydens vom Kölner Columbaretabel aus Köln vergleichen. Rogier hat es in Kenntnis des Werks seines Vorgängers, der wohl auch einer seiner Lehrer war, geschaffen;[xiii] allein schon die Besonderheit, Maria in ein vollständig blaues Gewand zu kleiden, gemalt im kostbarsten Blaupigment der Zeit, Lapislazuli, läßt darauf schließen.[xiv]
            Der Kirchenraum des Eyckschen Bildes gibt sich als symbolischer Raum zu erkennen. Er ist weniger deshalb gewählt, weil die Verkündigung im Tempel stattgefunden hat, sondern weil Maria nach alter theologischer Lehre mystisch identisch ist mit der 'ecclesia', der Kirche. Daß der Maler einen Bau des späten 12. Jahrhunderts zum Muster nahm, wie er uns z.B. in der Kirche St.-Quentin in Tournai erhalten blieb, verfremdete den Raum für den damaligen Betrachter noch mehr und legte ihm nahe, ihn symbolisch zu lesen.[xv] Während die Kleidung und andere Gegenstände der Zeit des Malers entstammen, ist die altertümliche Architektur ein Beleg für historisches Bewußtsein; Geschichte, d.h. hier: die heilsgeschichtliche Abfolge vom Alten zum Neuen Testament und die Vollendung des Tempels in der Kirche. Das ist ganz handfest gegeben: Maria kniet auf einem Boden mit alttestamentarischen Szenen im Stil des ausgehenden 12. Jahrhunderts.
            Das von Norden einfallende Licht kann keine natürliche Lichtquelle haben: seine sieben Strahlen geben sich als die Sieben Gaben des Hl. Geistes zu erkennen. Die Dreiheit der Fenster hinter Maria fordert dazu auf, sie auf die Dreifaltigkeit zu beziehen. Das Licht, welches durch die Scheiben dringt, ohne sie zu verletzen, ist Symbol der Unbefleckten Empfängnis und der unzerstörbaren Jungfräulichkeit Mariens. Das Bild bietet in der Lilie, den Steinen und Farben, den Bildern im Bild, d.h. den Glasfenstern, Wandmalereien sowie Fußbodenintarsien, kurz, in allem eine solche Fülle von symbolischen Verweisen, daß man mit ihrer Aufschlüsselung leicht Seiten füllen könnte. Darum geht es hier nicht, wohl aber darum, festzuhalten, daß dies Bild und seine Bestandteile nicht unhinterfragt als Bild-Quelle für die Kultur- oder Architekturgeschichte genommen werden dürfen.[xvi]
            Diese Bilder entfalten symbolische Welten, aber solche von höchster Naturgenauigkeit. Dies erklärt sich aus verschiedenen Motiven:
            Die Kunst der altniederländischen Neuerer ist zu verstehen als eine eigentümliche Variante der damaligen Bewegung, die wir Renaissance nennen. Bei Plinius und anderen Autoren las man Rühmendes über die hellenistischen Maler und ihre trompe-l'oeil-Gemälde, mit der sie Tiere und Menschen zu täuschen vermochten. Bilder der Antike kannte man damals nicht. Aber der Charakter dieser Malerei wurde aus den Texten hinreichend deutlich. Schon vor den Van Eycks hatte man in Brügge und an anderen Orten begonnen, nach einer möglichst genauen Wiedergabe der Natur zu streben.[xvii] Nun wollte man in der Malerei die Natur sogar noch übertreffen.
            Dabei hielt man am Vorrang der religiösen Aufgaben in der Malerei fest; ja man verstärkte, verglichen mit ihren höfischen Vorgängern des Schönen Stils um 1400, das Bemühen um die Erneuerung und Vertiefung der religiösen Malerei, im Sinne der damaligen religiösen Erneuerungsbewegungen, sei es Konziliarismus oder devotio moderna.
            Im 14. und 15. Jahrhundert nimmt die wissenschaftlich-empirische Forschung einen erstaunlichen Aufschwung; sie geht aber einher mit einer ins Enzyklopädische gehenden Gründlichkeit in der symbolischen Deutung der Welt, der Steine, Pflanzen, Farben usw., die zu einer vollständigen Christianisierung der antiken Natur- und Mythendeutung führten. Alles galt als bedeutsam, ganz im Sinne der scholastischen Vorstellung von der sog. 'natürlichen' Offenbarung, d.h. der göttlichen Konzeption der Natur, ja der ganzen Welt als Spiegel der Heilstatsachen. Deshalb wird die irdische Welt mit einer neuartigen Intensität erforscht und wiedergegeben; das naturforscherische, das geistliche und das künstlerische Streben gehen Hand in Hand. Hier nimmt die im 16. und 17. Jahrhundert etwa mit Johannes Kepler oder mit Maria Sybilla Merian zu voller Entfaltung gelangende Denkrichtung der Physikotheologie ihren Anfang, das heißt: die Vertiefung der Erkenntnis und Erforschung von Gottes Werken wird als Zuwachs des Gotteslobs verstanden. Die intensive Zuwendung der altniederländerländischen Maler zur Wirklichkeit ist also keinesfalls als Säkularisierungsprozeß zu verstehen.[xviii]
            Die geistlichen Zeichen decken sich bei van Eyck so restlos mit ihrer realen Erscheinung, daß bedeutungsgeladene und unbedeutsame Dinge nicht unterschieden werden können. Anscheinend hielt er nichts von der Abstrahierung noch von der Isolierung der Bedeutungsträger. Sie sollten vielmehr in der Fülle ihrer eigenen Erscheinung sichtbar werden, zugleich aber als integraler Teil der Wirklichkeit.
            Der Unterschied dieser Wirklichkeitsauffassung zu unserer Sicht wird an einem bestimmenden Element des Bildes leicht einsichtig, dem Licht. Van Eyck hat nicht, wie man lange glaubte, die Ölmalerei erfunden, wohl aber hat er wie niemand zuvor die Farben durch seine Technik transparent gemacht und zum Leuchten gebracht. Wir sehen weniger die Dinge in ihrer Körperlichkeit, sondern ihr Aufscheinen im Licht und durch das Licht. Das geheimnisvolle Sich-Entfalten dieses Lichts in den Räumen macht viel von der zauberhaften Wirkung eyckscher Bilder aus. Es sei daran erinnert, daß der größte Ruhm des Apelles nach den Schilderungen des Plinius darin bestand, daß er Licht so überzeugend wiederzugeben vermochte. Der Ehrentitel, ein neuer Apelles zu sein, gebührt Jan van Eyck mehr als einem Maler vor oder aus seiner Zeit.[xix] Damit wird auch deutlich, daß die Einschränkung im Gebrauch des Goldgrundes, welche diese Epoche der niederländischen Malerei kennzeichnet, entgegen älteren Meinungen nicht als Säkularisation zu verstehen ist. Gold wird in diesen Bildern nur verwendet, wenn die Ort- und Zeitlosigkeit des Himmels dargestellt werden soll. Die Emanation des Himmels auf Erden aber ist das Licht. Goldgrund jedoch läßt gemaltes Licht nicht zur Geltung kommen. Letztlich war er ja auch nur eine Krücke, um Sakralität zu suggerieren, solange sie mit künstlerischen Mitteln nicht darstellbar war.
            Aber auch das Halbdunkel hat in diesem Bild eine eigentümliche Qualität und Aussage; es wird dargestellt, weil in der Theologie Maria in der Verkündigung als 'adumbrata', als von Gott überschattete, verstanden wird. In dem Bildchen der Maria am Brunnen hingegen hat van Eyck wegen der anderen Thematik, d.h. Maria umgeben von ihren Symbolen, besser als Lauretanische Litaneizu bezeichnen, darauf verzichtet.
            Klaus Schreiner hat u.a. in seinem Buch über Maria über die Neigung geschrieben, Maria als gebildet bzw. als adlig aufzufassen, so daß sie kaum mehr etwas mit der Gemahlin des Zimmermanns Joseph von Nazareth gemein zu haben scheint.[xx] Es ist unübersehbar, daß diese beiden Gedanken auch in diesem Gemälde für den Herzog von Burgund anklingen. Maria hat eine fein geschriebene Bibel vor sich aufgeschlagen; daß es sich nicht um einen Psalter oder ein Gebetbuch handelt, zeigen Format und Dicke des Bandes. Derartiges war selbstverständlich einer Zimmermannsfamilie  unerschwinglich; von der kostbaren Gewandung mit Pelzfutter und Goldsäumen gar nicht erst zu sprechen. Zwar wird mit dieser Darstellungsweise das Höfische zur irdischen Schönheitsnorm und Richtschnur erhoben, doch ist hauptsächlich die irdische wie himmlische Königlichkeit Mariens gemeint.
            Das macht wieder nur deutlich, daß wir kein Abbild irdischer Dinge und Personen vor uns haben, sondern ein kunstvoll arrangiertes Vorstellungs-Bild. So läßt sich auch besser begreifen, warum einerseits Maria so distanziert und unnahbar ist und andererseits doch Kontakt zum Betrachter aufnimmt, wie ja auch der Raum sich in den Raum des Betrachters fortzusetzen scheint. Wären nicht die Proportionen so verkleinert - das Bild ist ja nur 37 cm hoch -, so könnte man von der Illusion eines bruchlosen Übergangs zwischen der Welt des Betrachters und der des Bildes sprechen. In jedem Falle aber wird durch diese Nähe und Natürlichkeit dem Heiligen nicht nur Wirklichkeit, sondern auch Wirkungsmacht verschafft.
            Durch die Preziosität und Schönheit der gezeigten Personen und Dinge wird zwar die Augenlust des Betrachters aufs Höchste gereizt, aber sie wird doch auschließlich auf Geistliches gerichtet. Malerei versteht sich damals und erweist sich in diesem Bilde als die geistigste und geistlichste der Bildenden Künste. Das eröffnet auch einen Weg zur Beantwortung der Frage, warum die Körperlichkeit der Personen in den religiösen Bildern so unterschiedlich ist. Maria ist hier nicht als in Schönheit erblühte Frau gegeben, sondern als die zarte 'Magd des Herrn', als 'Gefäß' des Heiligen Geistes. Sie ist, um Begriffe der Lauretanischen Litanei zu benutzen, nicht nur mit menschlichen Eigenschaften ausgestattet, sondern sie ist 'speciosior sole, pulchra ut luna, lilium vallis, stella maris, amicta sole' usw. Auf den Rahmen der Eyckschen Marienbilder waren Verse aus Marienhymnen mit derartigen marianischen Anrufungen aufgemalt. Wenn schon der menschliche Zeugungsakt nach damaligem Verständnis etwas Hochgeistiges war, um wie viel mehr mußte das für die Inkarnation Gottes in Maria gelten.
            Der Maler brachte seine Körpererfahrung nur in den wenigen Malen ein, wo sie als Bedeutungsträger unverzichtbar war; als Beispiel wäre die sog. Lucca-Madonna zu nennen[xxi]: Das Säugen des Knaben an der Mutterbrust wird überdeutlich gemalt, ebenso die pralle Körperlichkeit oder die Weichheit seines Leibes. Denn es ging um die Darstellung der Menschheit Christi im Sinne der so schwer begreiflichen Lehre von den zwei Naturen des 'Menschensohnes'. Der Körper Mariens aber ist hinter einer für das Auge letztlich undurchdringlichen Gewandfassade verborgen. Es bleibt also weiterhin der Eindruck von Widersprüchlichkeit in der Körpererfassung durch Jan van Eyck.
            Der Blick auf das Bild Rogiers verstärkt ihn noch: Daß es von der Kenntnis der Eyckschen Tafel ausgeht, wurde schon gesagt. Es ist einfacher gehalten. Darum heißt es unisono in der Literatur, wir hätten ein typisch bürgerliches Interieur der Zeit vor uns. Dies legt nur die Unkenntnis der Wohnverhältnisse um 1460 bloß. Zwar entspricht es den damaligen Verhältnissen, daß nur das obere Drittel der Fenster in Profanbauten verglast war, weil Glas so teuer war. Auch die Bodenfliesen, die Wandvertäfelung und das Bett entsprechen damaliger Ausstattung. Einen derartigen Raum könnte es jedoch allenfalls in Fürstenschlössern gegeben haben, aber auch dort müssen wir uns die eigentlichen Wohnräume in der Regel kleiner und niedriger vorstellen (s.u. das Bladelin-Retabel). Ein derartiger Raum mit Holztonne wäre allenfalls als Großer Saal in einem Palast denkbar. Aber schlichter Sachverstand hätte darauf aufmerksam werden müssen, daß es keinen Schlafraum mit einer Tür ins Freie gibt. Der Eindruck drängt sich auf, daß dies wiederum ein zwar wirklichkeitsnah erscheinender, aber symbolisch gemeinter Raum ist. Darauf weist auch das in Profanbauten der Zeit kaum denkbare Okulusfenster der Stirnwand mit seiner trinitarisch-geometrischen Symbolik. Immerhin wirkt der Raum durch seine hölzerne Wandvertäfelung und die Art der Fenster weltlicher als die Kirche van Eycks.
            Ausgangspunkt dieser Raumerfindung ist die Vorstellung von Maria als 'cubiculum dei', als Gemach Gottes, zugleich als Himmlisches Brautbett, ausgehend von der typologischen Deutung des 'ferculum Salomonis' im Hohen Lied: Das große rote Bett hinter Maria ist konkret darauf zu beziehen, womit sich Rogier einer langen, vor allem italienischen Tradition anschließt.[xxii] Zugleich ist dieses Himmelbett ein die Würde der Gottesmutter betonender Baldachin. Damit wird deutlich: Der Raum ist ein Konstrukt, höchst komplex und gedankenreich: Er ist zugleich Gottes Brautgemach - daher die Elemente, die auf damalige Schlafzimmer verweisen, und doch auch Kirchenraum; Letzteres wird durch ein Bild der Gregorsmesse von Rogiers Lehrer Robert Campin nahegelegt, das allerdings nur aus Kopien bekannt ist.[xxiii] Die geschlossene Tür darf als die in der marianischen Theologie immer wieder genannnte verschlossene Tür der Ezechielsvision gedeutet werden: "Porta haec clausa erit et non aperietur, et vir non transibit per eam" (Ezec. 44,2).[xxiv] Dies ist zugleich eine indirekte Aussage über die Geschlechtslosigkeit der Engel.
            Und doch erfährt man diesen Raum als konkreter und irdischer als denjenigen im Bild des Jan van Eyck. Nicht alles ist bedeutsam, sondern das Bedeutungsgeladene wird hervorgehoben, somit in seiner Aussagekraft zeichenhaft gesteigert und vom Bedeutungsarmen oder Bedeutungslosen abgesetzt; dies zeigt sich etwa an der auffälligeren Plazierung der Lilienvase. Dem entspricht, daß größere Flächen des Bildes im doppelten Sinne des Wortes leer sind; aus diesem Kontrast ergibt sich eine Wirkungssteigerung der als bedeutsam gedachten Dinge. Die Komposition dient der Blickführung, so z.B. die Anordnung des eingerollten Bettvorhangs zur Betonung der Taube des Hl. Geistes. Rogier geht es um größtmögliche Deutlichkeit, d.h. um stärkste Wirkung der wichtigen Bildelemente; deshalb vermeidet er etwa die Überschneidung Mariens. Im Eyckschen Bild kommt anscheinend allen Dingen eine Bedeutung zu, und man möchte Bedeutung noch im letzten Winkel suchen; beim Rogierschen Bild keinesfalls. Bei van Eyck fallen das Zeichen und das Bezeichnete zusammen, bei Rogier haben die Dinge eher Verweischarakter. Im Eyckschen Bild läßt das Licht beinahe alles auf gleiche Weise erglänzen und gibt allem eine fast unirdische Erscheinung; ja, es scheint den Dingen immanent zu sein. Bei Rogier erscheinen die Dinge begrenzter, sie sind weniger leuchtend, eher beleuchtet. Zwar differenziert er die Figuren in ihrer Ausstrahlung im wortwörtlichen Sinne, aber er nimmt außerdem Nimben aus Goldstrahlen zu Hilfe, um Heiligkeit zu unterscheiden. Offensichtlich ist seine Einstellung zur Wirklichkeit, sein Verständnis des Verhältnisses von Irdischem zu Himmlischem anders als bei van Eyck. Man könnte van Eyck geradezu des Pantheismus verdächtigen, Rogier nicht.
            Doch kommt auch bei Rogier in den Umräumen und Hintergründen nur eine geheiligte Welt zur Darstellung, eine strenge Auswahl von Dingen, Raum- und Landschaftselementen nach geistlichen Gesichtspunkten. Dieser selektive Blick auf die Welt läßt eigentlich nur hohe, schöne und bedeutsame Dinge zu, allerdings deutlich gewertet und nach Rängen und Graden unterschieden; das Böse, Unheilige, Häßliche ist nach Möglichkeit ausgeklammert. Es ist wie bei van Eyck eine von Gott bestimmte Welt, aber der Blick des Künstlers auf sie ist ein anderer: er durchdenkt, er wertet und filtert, er formt die Dinge gemäß seinen Idealen um. Doch ist das Wirklichkeitsverständnis der beiden Künstler jeweils sehr komplex und darum nur schwer auf einen Begriff zu bringen.
            Das zeigt sich insbesondere an der Einstellung beider Maler zur Körperlichkeit, zu illustrieren an den Bildern ihrer beiden Ehefrauen, der Margarete van Eyck aus dem Jahre 1439 und Rogiers Frau Elisabeth Goffaert, wohl wenig später.[xxv] Damals hatte das Künstlerselbstporträt bereits Tradition, das Bild der Künstler-Ehefrau aber war als Aufgabe etwas Neues. In der Kunstliteratur der Antike ist immer nur von Bildern der Künstler-Geliebten und -Muse die Rede. Die beiden niederländischen Meister hingegen thematisieren den sakramentalen Charakter der Ehe: Haltung, Kleidung und Handgebärde betonen die Tugend der Mäßigkeit wie der Demut und lassen diese Porträts als christliche Tugendbilder erscheinen.[xxvi] Aber der Vergleich macht doch auch deutlich, daß Rogier seine Gemahlin leiblicher gibt, ihr Körper entfaltet sich tiefenräumlich und optisch präsent; das Kleid ist in seiner Oberflächenstruktur sinnlich greifbarer.
            Auch Rogiers Verkündigungsmaria hat mehr echte Leiblichkeit: Wir spüren die Bewegung ihrer Gliedmaßen noch unter dem Gewand und erkennen z.B., daß Maria niedergekniet ist und sich zum eintretenden Engel umdreht, mehr im Sinne eines Hinhörens als eines Hinschauens. Die Komposition macht deutlicher, daß sie durch ihr Ohr empfängt, auf das die Worte des Engels zielen. Es ist in Rogiers Madonna mehr Bewegung als in der van Eycks: so hält sie etwa ihr Buch auf dem Betpult umfaßt, gleichsam stellvertretend für den noch nicht geborenen Logos. Mit dieser kleinen Geste unterstreicht sie die Bedeutung des Wortes Gottes, des Logos, der in der Schrift geoffenbart ist, wie des Logos, der nun in ihr Fleisch wird.
            Die Gestalten Rogiers bewegen sich, wenn auch gemessen und distanziert. Maria ist in Haltung und Bewegung ein Muster an Disziplin und Würde. Die Figuren bei van Eycks Bild erscheinen dagegen statisch, ja passiv; Rogiers Maria ist zwar auch als Hinnehmende und Empfangende gemeint, aber ihre Reaktion und Antwort sind erkennbar. Van Eycks Heilige sind anbetungswürdige Gestalten, diejenigen Rogiers ebenfalls, doch können sie außerdem zum Vorbild für die Betrachtenden werden. Sie laden im Sinne der 'devotio moderna' zur konkreten Nachahmung bzw. Nachfolge ein. Man kann sich mit ihnen identifizieren, auch wenn dies nicht bei jeder auf gleiche Weise naheliegt. Die dargestellte Bewegung löst eher Anteilnahme aus, nicht nur ein Erstaunen über die Herrlichkeit Gottes, seiner Heiligen und seiner Schöpfung wie bei van Eyck.
            Der Betrachter erschaut in den Bildern Jan van Eycks eine heilige, aber fast immobile Welt, in denen Rogiers erlebt er die Heilsereignisse mit. So führt Rogier das Eindringen des Engels Gabriel in Marias Gemach als Wunder vor: Er ist durch die geschlossene Tür gekommen, deren symbolische Bedeutung schon erwähnt wurde. Sein Hereintreten ist ein Hereinschweben; das macht der leicht über die Stufen streifende Gewandsaum deutlich. Die Leichtigkeit und Grazie der Bewegung, das Gewichtlose der Erscheinung sticht von dem pyramidal blockhaften eyckschen Gabriel ab. Rogiers Engel ist nicht der prunkvoll gekleidete Bote Gottes, sondern ein Teil seines geistigen Wesens; sein Kommen ist der Einbruch einer höheren, aber doch wesensähnlichen Macht in eine heilige, aber eben doch irdische Welt. Es bedurfte kaum des lichten weiß-bläulichen Gewandes und der Flügel, um diese Figur als Geistwesen erkennbar zu machen, das keiner menschlichen Bedingtheit unterworfen ist. Seine Gestalt hat körperhaftes Volumen, - ich betone das noch einmal - aber es fehlt ihm die Schwere und leibliche Substanz, die 'conditio humana'.
            Die Unterscheidung der Körper nach ihrer Geistigkeit hat  der Maler noch einmal in der Tafel des Jüngsten Gerichts im Hospiz zu Beaune in einer mit der Tradition brechenden Weise entwickelt.[xxvii] Die Ikonographie war bestimmt durch den biblischen Satz "Gewogen und für zu leicht befunden" (Dan 5,27); deshalb schlug bei der Seelenwägung die Waagschale mit den Verdammten immer nach oben aus. Rogier entwickelte nun die seiner Körperauffassung gemäße Vorstellung, daß die Körper der Seligen sich wesensgemäß denen der Engel angleichen, daß sie zwar nicht sogleich schweben können, wohl aber leichter werden, nach oben streben, während die der Verdammten durch eine sich verstärkende Schwerkraft höllischer Art bleischwer werden und in den Höllenschlund hinabstürzen. Kein Engel zieht die Seligen hoch, kein Teufel die Verdammten herab. Durch den Richterspruch haben sich die Körper in ihrem Wesen verwandelt, ihre Substanz wird eine andere. Durch die rhythmische Kadenz gibt der Maler jedem dieser beiden Vorgänge unvergeßliche Einprägsamkeit.
            In einem neuartigen Ausmaß bestimmen also persönliche Anschauungen bzw. Überlegungen der einzelnen Künstler die Bildwelt; das wird von den Auftraggebern und der damaligen Öffentlichkeit akzeptiert, gelegentlich auch verworfen: Rogiers Weltenrichter wurde dutzendweise kopiert; seiner Reflexion über die Körper der Seligen und der Verdammten aber ist man nicht gefolgt. Allerdings darf man nicht in den Fehler verfallen, Rogier Subjektivismus oder Überbetonung des eigenen Standpunktes zu unterstellen; es ging ihm um allgemein verbindliche Lösungen. Doch war man damals in Fragen der kirchlichen Lehre noch nicht erstarrt, sondern vertrat die Auffassung, daß intensiviertes Studium und Nachdenken, ebenso aber mystische Eingebungen, neue Anschauungen in Lehrfragen durchsetzen konnten. Wenn Maler jedoch für sich in Anspruch nehmen konnten, neue Meinungen in Lehrfragen zu äußern, so bezeugt das an und für sich schon den ungewöhnlichen Rang, den Kunst und Künstler in der damaligen Gesellschaft einnehmen konnten, bezeugt aber auch eine Veränderung des Verhältnisses von Kunst und Religion. Diese Entfaltung der Möglichkeiten einzelner Personen ist höchst relevant und verlangt von uns, daß wir sie auch beachten.
            Jan van Eycks Erfindungen sind eher Bilder mit allgemeinem ontologisch-metaphysischen Gehalt, Rogiers stellen vor allem lehrhaft heilsgeschichtliche Bedeutung vor. Beide Maler haben also eine unterschiedliche Welt- und Lehrauffassung; ihre Bilder bauen auch eine andere Beziehung zum Betrachter auf und verlangen anderes von ihm. Rogiers Bildwelt wahrt eine größere Distanz, seine Bildräume enden im Rahmen, sind also nicht nach vorne offen. Während die Figuren van Eycks, vor allem die von ihm Porträtierten, oft den Betrachter fixieren, schauen die Gestalten Rogiers weder einander an, noch wenden sie sich frontal den Betrachtern zu. Das von ihm bevorzugte Halbprofil stammt aus der Kultbildtradition der Ikone und wurde auch in Statuengruppen verwendet, so etwa den Schönen Pietàs um und nach 1400.[xxviii] Es hat den Charakter eines Kompromisses zwischen Zuwendung und Distanzierung; die Figuren agieren wie Schauspieler, die sich - genau abgemessen - einander zuwenden und gleichzeitig in Richtung der Zuschauer sprechen. Selbstverständlich findet sich diese Formel auch bei van Eyck, Rogier macht jedoch geradezu eine Regel aus ihr.
            Van Eycks Rahmen sind offene Fenster, Rogiers aber rahmende Abschlüsse und Würdeformeln für das Dargestellte. Das eycksche Bild öffnet sich als eine zu erschauende Welt und erweitert dieses Stück Welt zum Betrachter hin; sie führt sich vor und zieht den Betrachter herein. In Rogiers Bilder kann man sich nicht hineinbegeben; da der Vordergrund in der Regel von den Hauptfiguren eingenommen ist, bleibt der Raum für uns unbetretbar, er wird eine Art Bühne mit der auf ihr spielenden Szene, somit aber zu einem Gegenüber. Offenbar reagiert der Künstler hierin auf die von den Kirchenreformern Gerson, D'Ailly und anderen gegen die Bilder gerichtete Kritik, sie seien zu sensualistisch und zu illusionistisch.
            Das erklärt jedoch nicht den eigenartigen Gegensatz des Künstlerselbstverständnisses: Jan van Eyck hat alle Bilder aufwendig signiert und datiert; d.h. was wir zu sehen bekommen, verdanken wir ihm und seiner Kunst. Seine niederdeutsche, in teilweise griechischen Buchstaben verschlüsselte Devise 'ALC IXH XAN',[xxix] d.h. 'so gut ich kann', bedeutet: Alles, was wir hier sehen, verdanken wir der Kunst des Meisters, aber es liest sich auch wie eine Aufforderung zum Wettbewerb. Rogier hat hingegen nie signiert und nie datiert. Er tritt hinter seine Bilder zurück. Seine Kunst versteht sich vor allem als dem Dargestellten dienend. Das hat seinen Ruhm jedoch nicht gemindert.

Eines können wir bereits jetzt feststellen: Diese Bilder machen Aussagen über das damalige Verständnis von Welt und Gesellschaft, über Lebensverhältnisse und Alltagskultur nicht leicht; nur unter kritischer Prüfung können wir ihnen darüber Auskünfte entnehmen. Und doch offenbart ihre Gegenüberstellung erhebliche Unterschiede im Verständnis der irdischen Welt wie des Verhältnisses von Irdischem und Überirdischem, das man wenigstens zum Teil als eine über die Malerindividuen hinausgehende Wandlung begreifen kann. Ehe ich diesen Gedanken weiterverfolge, möchte ich jedoch noch einen religiösen Aspekt dieser Bilder untersuchen, ihre Nähe zur Vision und zur damaligen Art der geistlichen Betrachtung.
            Das Retabel Rogiers für den burgundischen Oberfinanzeinnehmer Peter Bladelin zeigt in der Mitte die Anbetung des neugeborenen Christkindes mit dem Stifter, auf dem Flügel zur Rechten die Erscheinung der Ara Coeli, auf welche die tiburtinische Sybille den Kaiser Augustus im Schlafzimmer seines kapitolinischen Palastes zum selben Zeitpunkt aufmerksam macht; zur Linken die Erscheinung des Sterns von Bethlehem und seine Verehrung durch die Heiligen Drei Könige, die sich ebenfalls im selben Moment ereignet.[xxx] En passant sei darauf hingewiesen, wie Rogier das kaiserliche Schlafzimmer darstellt, nämlich enger und weniger prunkvoll als den Raum der Verkündigung im Columba-Retabel; auch ist das Bild ein sprechendes Zeugnis für die Kleidung und vor allem für die Ideale der 'Höflichkeit' in Körperhaltung und Gestik sowie von distanziertem und beherrschtem Betragen in der burgundischen Hofgesellschaft.
            Die Hervorhebung der Verehrung des Königs der Könige durch den römischen Kaiser, der hier mit dem habsburgischen Doppeladler auftritt, und durch die Könige signalisiert eine dem Selbstverständnis der damaligen Gesellschaft gemäße Sicht, wonach die Fürsten dieser Welt bei der Offenbarung der Ankunft des Messias von Gott privilegiert worden seien. Das Verhältnis der Szenen versteht sich als Stufenbildung: Was in den Flügelbildern nur als Erscheinung am Himmel, nicht verschleiert, sondern nur weit entfernt erkennbar wird, ist im Mittelbild nah und gegenwärtig. Die Himmelserscheinungen sind also auf irdische Weise präsent, so daß sich die Gruppe der Ara Coeli oder das Kind als Stern von Bethlehem nicht von der Wirklichkeit von Personen auf Erden unterscheiden. Sie sind weder von Wolken verhüllt, noch schweben sie, noch sind sie eine reine Licht-Erscheinung. Das Mittelbild ist als Darstellung der Vision der hl. Birgitta von Schweden zu interpretieren. Dies erklärt die Geburtshöhle, deren Öffnung wir im Vordergrund sehen, sodann die Säule, an die sich die Muttergottes anlehnte; das weiße Kleid Mariens, ihre Haltung als anbetend Niedergekniete, die Nacktheit des Kindes oder wie Maria ihren Mantel benutzt, um das Kind zu betten und zu bergen. Auch von der Kerze in der Hand Josefs berichtet Birgitta und daß ihr Licht vom Glanz, das vom Jesuskind ausging, überstrahlt wurde. Uns verwundert die Feststellung, daß wir dreierlei Visionsbilder vor uns haben, während wir doch seit dem Hohen Mittelalter eine andere Art der Darstellung des Visionären gewohnt sind und Rogiers Gemälde eher als Abbildungen von konkreten Orten, Dingen und Personen bezeichnen würden.
            Eine der berühmten Bilderfindungen Rogiers ist die wohl für den Altar der Brüsseler Malerzunft gemalte Tafel 'Lukas zeichnet die Madonna'.[xxxi] Wir sehen in einer offenen Loggia, die rechts in einem Seitengemach das Schreibpult des Evangelisten erkennen läßt, den halb niedergeknieten Lukas, wie er mit dem Silberstift die demütig auf dem Boden und vor dem Baldachinthron niedergelassene Madonna zeichnet. Der Chronologie gemäß gehört Lukas nicht zu den Jüngern Christi, sondern zu den Apostelschülern; deshalb ist klar, daß er nicht etwa Maria zu ihren Lebzeiten gemalt hat, sondern daß wir hier das Bild einer Vision vor uns haben. Diese aber wird so real wiedergegeben wie ein Besuch im Atelier. Daß dies spätere Maler anders gesehen haben, zeigt ein Bild, das Jan Gossaert gen. Mabuse (um 1478 - um 1536) um 1520 in Kenntnis des älteren Werkes geschaffen hat und das den visionären Charakter der Erscheinung der Gottesmutter deutlicher macht.[xxxii] Die Darstellungsweise Rogiers bezeugt einen eigentümlichen Rationalismus in der Auffassung und Wiedergabe von mystischen Erfahrungen und warnt uns einmal mehr, nicht unsere Wirklichkeitssicht mit derjenigen der alten Niederländer zu verwechseln. Rogier kennt keinen Wesensunterschied zwischen dem in der inneren Vision Erschauten und dem mit eigenen Augen gesehenen Dingen; im Gegenteil, er versucht beide Sehweisen aufs Genaueste einander anzugleichen.
            Ich komme noch einmal auf das Weihnachtsbild zurück. Eine Schlußfolgerung, die zu ziehen ist, heißt: Bladelin ist nicht als Besucher in Bethlehems Stall gemeint, sondern als Teilhaber an der Vision. Das hunderte von Jahren zurückliegende Ereignis wird vergegenwärtigt, auch für die Bildbetrachter.[xxxiii] Dies  entspricht einer damals gerade durch die Bewegung der devotio moderna verbreiteten Meditationspraxis: In Unterweisungen zur Betrachtung wird empfohlen, sich genau den Ort und die Szenerie des heiligen Ereignisses vorzustellen, aber nicht in dem Sinne, daß man sich in weit entfernte Länder und Zeiten versetzt, sondern daß man alles in die Gegenwart holt, Christus, Maria und die anderen heiligen Personen begleitet, mit ihnen Gespräche führt und sich in ihre Empfindungen hineinversetzt, mit ihnen sich freut, mit ihnen leidet, mit ihnen weint.[xxxiv] Die gemalten Bilder boten dabei eine Hilfestellung. Man solle sich jedoch davor hüten, so heißt es in damaligen Anweisungen, an den Bildern hängen zu bleiben und für wirklich zu halten, was nicht wirklich ist. Dies hilft zu begreifen, warum Rogier sich von der allzu illusionistischen Darstellung der Bilder van Eycks befreit und die ästhetische Grenze stärker betont.
            Als gemalte Visionen wie als bildliche Vorlagen für die geistliche Betrachtung sind diese Bilder Zeugnisse der damaligen Frömmigkeitspraxis wie der geistlichen Rolle auch großer Kunstwerke. Und doch bleiben sie, wenn auch nur unter methodischem Vorbehalt, brauchbar als Quelle für die damalige Auffassung des Körpers und der irdischen Wirklichkeit.

Zum Abschluß möchte ich noch einen Ausblick versuchen: der führende Künstler der Rogier folgenden Malergeneration, Hugo van der Goes, hat die rogiersche Kompromißformel nicht aufrechterhalten. Irdisches und Himmlisches treten auseinander. Ein Zeugnis ist die um 1480 gemalte Tafel der Geburt Christi in der Berliner Gemäldegalerie.[xxxv] Es sei nur auf die markantesten Unterschiede hingewiesen. Hugo zeigt nicht mehr die Geburtsszene in einer idealen Zeitlosigkeit, sondern es ist Nacht, und beim Ausblick in die Landschaft links erkennt man auch, daß es Winter ist. Tages- und Jahreszeit waren den älteren niederländischen Malern nicht berücksichtigenswert erschienen, obwohl die Brüder Limburg in den vor 1416 entstandenen Kalenderbildern der Très Riches Heures den Schritt zur Zeit-Spezifizierung bereits getan hatten, ebenso italienische Maler, wie Gentile da Fabriano in der Pala Strozzi der Uffizien in Florenz von 1423.
            Hugos Bild durchbricht auch die nobilitierende Sicht auf die Heilsereignisse, indem nicht ausschließlich hohe Herrschaften, sondern Hirten in der Anbetung des Kindes den ersten Platz einnehmen, die obendrein ungewohnt bäurisch erscheinen. Die Vornehmheit Mariens und Josefs prallt auf die polternde Heftigkeit des Landvolks. Der Gegensatz ist so groß wie nie zuvor, obwohl man nicht von einer Spaltung zwischen idealen und realen Personen bzw. Physiognomien sprechen kann, wie bei anderen Malern dieser Zeit: Auch das Antlitz des Josef und der Propheten sind nach der Natur studiert, aber in Richtung auf Würde und Charakterqualität hin umgeformt.
            Der Tiefensog der Raumbildung zerstört das Gemessene und Ruhige des rogierschen Bildaufbaus, mehr noch die Ansprache des Betrachters durch die beiden Propheten Jesaja und Habakuk, die den Vorhang vor dem Ereignis wegziehen, um die Enthüllung der Wahrheit in der Offenbarung des Erlösers zu verdeutlichen. Die stärkste Kontrastwirkung jedoch geht vom Licht aus: Es wird verstanden als unirdisch, als Einbruch des Göttlichen in das Irdische. Hugo betont den Gegensatz der Nacht auf Erden und den verschiedenen Erscheinungsweisen göttlichen Lichtes, dem blendenden Aufflammen des Engels über den Hirten, das sie niederstürzen läßt, dem Strahlenglanz des Kindes und dem milden Leuchten seiner Mutter. Das heißt aber auch: das Irdische wird nun diesseitiger, konkreter; Heukrippe, Strohbündel, Pflanzen, Tiere oder die Bauern sind ungemein naturgetreu gemalt - erst von da ab könnte man von Realismus im eigentlichen, modernen Sinne des Begriffes sprechen, ohne daß er sich jedoch tatsächlich mit unserer Wirklichkeitssicht decken würde oder unspirituell wäre: Denn Hugos Köpfe und Körper sind auf eigentümliche Weise transparent, wirken durchgeistigt. Aber unbestreitbar erscheint das Jenseits nun fremder und wunderbarer zugleich. Die Inkommensurabilität zwischen Himmlischem und Irdischem wird zum Thema.
            Dies entspricht prinzipiell der Auffassung des Kardinals Cusanus: Dieser heute berühmteste Theologe und Philosoph seiner Zeit hat immer wieder thematisiert, daß es keinen Übergang vom Endlichen zum Unendlichen gibt, daß Gott mit dem irdischen Verstand nicht begreifbar ist, sondern daß es der Eingießung der Gnade bedarf, um ihn zu erfahren, ohne ihn doch je erfassen zu können. Damit zog er zugleich eine scharfe Grenze zwischen mystischer Schau und irdischem Sehen, betonte den Wesensunterschied der Logik des Irdischen und Überirdischen. Doch ist es keineswegs paradox, daß er gleichzeitig einer der großen Theoretiker der Mystik wurde.
            Hugo ist keinesfalls ein isolierter Künstler, und es wäre verfehlt, zur Erklärung für diesen Riß zwischen Himmel und Erde seine spätere Geisteskrankheit zu bemühen. Für den Wandel der Bild- und Wirklichkeitsauffassung wäre auf das schon gezeigte Lukasbild des Jan Gossaert zu verweisen. Besonders sinnfällig scheint mir jedoch ein Bilderpaar mit der Darstellung der Gregorsmesse zu sein. Die eucharistische Vision Papst Gregors des Großen wird in dem 1496 vollendeten Bild des Lübecker Malers Wim Dedeke als ein die geschauten Dinge naturgetreu wiedergebendes Altarbild gemalt, also in der Nachfolge Rogiers. Bei dem wenig jüngeren Bild des moderneren Kölner Bartholomäusmeisters wird sie zu einem den Papst geradezu überwältigenden Einbruch des Überirdischen als Lichterscheinung.[xxxvi]
            Es war Hugo van der Goes, der das Göttliche als das 'Ganz Andere' thematisierte. Hugos Welt erscheint nicht wie die Rogiers von Gott rational geordnet, sondern als des Göttlichen bedürftig, letztlich als zwiegespalten und verworren, ja irrational.
            So überrascht auch nicht, daß Hugo auch das Thema der Verkündigung neu formuliert hat. Das Original ist verloren. Aber verschiedene Kopien verschaffen uns eine Vorstellung von seinem Aussehen. Der Engel kommt mit überirdischer Gewalt, gleichsam im Sturzflug und mit Blitz und Donner, in Mariens Gemach.[xxxvii]
            Überhaupt hat er in seinen späten Bildern immer stärker das nicht Verstehbare des Eingreifen Gottes thematisiert, so im Bild des Marientodes aus der Zisterzienserabtei Ter Duinen bei Brügge:[xxxviii] Traditionell stand Christus im Kreise der Apostel am Totenlager seiner Mutter, um ihre Seele in Empfang zu nehmen. Hier nun schwebt er über der Gruppe in einer Aureole, umgeben von Engeln. Niemand sieht ihn, auch die sterbende, von der Blässe des Todes gezeichnete Maria nicht, deren Augen brechen. Christus wird als gänzlich unerfahrbar gezeigt; kein Apostel bemerkt sein Kommen oder sein Wirken; unter den aufgezeigten Reaktionen sind von sehr unterschiedlicher Gläubigkeit und Ergriffenheit, bis hin zum blöden Starren des Apostels hinter Petrus. Die extrem kalte und düstere Farbigkeit, die Kahlheit des Raumes, die Isoliertheit der Personen voneinander verbreiten einen Ausdruck von Depression und Hilflosigkeit, nicht von Feierlichkeit und Optimismus.
            Gleichwohl betont Hugo mit diesen Bildern die Möglichkeit der Kunst, die Erfahrung des Göttlichen darzustellen und das Überwirkliche sichtbar zu machen. Ihr Anspruch wird dadurch aber übersteigert. Es entsteht ein Glaubwürdigkeitsproblem.[xxxix] Das naive Bildverständnis war gerne bereit, das Gemalte auch für wirklich und wahr zu nehmen. Hingegen wurde im wenige Jahrzehnte später ausbrechenden Streit der Reformatoren um das Altarsakrament sogar der Realitätsgrad des Bezeichneten im Zeichen kontrovers diskutiert. Kritische Köpfe sahen früh schon die den Himmel offen zeigenden Gemälde als Phantasiegebilde der Maler an,[xl] nicht nur die Wirkungsmacht der Bilder auf das Volk war ihnen ein Dorn im Auge, sie witterten überhaupt Täuschung und Betrug. Schon in der Generation nach Hugo van der Goes begannen die Stimmen zahlreicher zu werden, welche die Malerei als eine lügnerische und verführerische Kunst denunzierten, und bald darauf vernichtete im Namen der Wahrheit und des reinen, unverfälschten Wortes ein Bildersturm fast alle Zeugnisse der altniederländischen Malerei. Nur als Kunstwerke, nicht als religiöse Bilder, durften einige überleben.

Diese Ausführungen sollten deutlich machen, wie schwer es ist, Bilder als historische Zeugnisse zu lesen, wenn man sie nicht jeweils als individuelle Gebilde und in ihren Funktionen bzw. Konventionen ernstnimmt; andererseits sollte die Folge dieser drei Maler zeigen, daß ihre Bilder erhellende, in ihrer Aussage durch keine andere Quelle ersetzbare Einblicke in die Geschichte und den andernorts kaum nachweisbaren Wandel des Körper- und Wirklichkeitsverständnisses im 15. Jahrhundert geben.








[i] Um nicht die Anmerkungen unnötig lang zu gestalten, verweise ich auf die klassischen Werke von Max Jakob Friedländer (in seiner englischen Version): Early Netherlandish Painting, insbes. Bd. 1 und 2, hg. v. Nicole Veronee-Verhaegen, Leiden 1967 und Erwin Panofsky: Early Netherlandish Painting. Its Origin and Character, 2 vol., Cambridge/Mass. 1953.-S.a. Micheline Comblen-Sonkes: Guide bibliographique de la peinture flamande du Xe siècle, Brüssel 1984.

[ii]. München 1992, S. 17.
[iii] Wenn wir die Quellen des 15. Jahrhunderts durchgehen, machen wir im übrigen die Beobachtung, daß die großen Schöpfungen, wie Sluters Mosesbrunnen in der Karthause von Dijon oder das Genter Retabel der van Eyck, schon bei Zeitgenossen erstaunliches Ansehen und einen gelegentlich an Massentourismus erinnernden Zulauf genossen.

[iv] Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1953 und viele weitere Auflagen; s.a. die anderen Arbeiten des Autors.

[v] Maria E. Gössmann: Die Verkündigung an Maria im dogmatischen Verständnis des Mittelalters, München 1957.- Barbara Jakoby: Der Einfluß niederländischer Tafelmalerei des 15. Jahrhunderts auf die Kunst der benachbarten Rheinlande am Beispiel der Verkündigungsdarstellungen in Köln, am Niederrhein und in Westfalen (1440-1490), Köln 1987 (Kölner Schriften zur Geschichte und Kultur 12).- Klaus Schreiner: Marienverehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit. Bildungs- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien zur Auslegung und Darstellung von Mariä Verkündigung, in: Frühmittelalterliche Studien 24, 1990, 314-368.- Horst Wenzel: Die Verkündigung an Maria. Zur Visualisierung des Wortes in der Szene oder: Schriftgeschichte im Bild, in: Maria in der Welt. Marienverehrung im Kontext der Sozialgeschichte 10.-18. Jahrhundert, hg. von Claudia Opitz u.a., Zürich 1993, 23-52.

[vi]. Heute im Germanischen Nationalmus. Nürnberg, s. Heinz Stafski: Die mittelalterlichen Bildwerke, Nürnberg 1965 (Kataloge des Germanischen Museums Nürnberg 1). Eine frühere Statue dieses Thema ist die berühmte Maria im nördlichen Seitenschiff des Bamberger Domes, die zu Unrecht von den meisten für eine Heimsuchungsmadonna gehalten wird.
[vii]. Sie läßt sich auch an anderen heiligen Bildthemen nachweisen, z.B. einer höfischen Wiener Madonnenstatue um 1360; auffällig ist das tiefe Decolleté, die sich an den Körper anschmiegende Gewandung, so daß der Körper sogar in der Leistenzone sichtbar wird, der modische Krüseler; cf. Robert Suckale: Die Hofkunst Kaiser Ludwigs des Bayern, München 1993, Kap. 6.
[viii]. Ich greife als Beispiel heraus: Beate Hentschel: Zur Genese einer optimistischen Anthropologie in der Renaissance oder die Wiederentdeckung des menschlichen Körpers, in: Schreiner/Schnitzler (wie Anm. 2, S. 85 ff.
[ix] Wie allein schon die umgekehrt zu lesenden Buchstaben der Worte aus dem Munde Mariens zeigen, steht hinter der eyckschen Bilderfindung des Genter Retabels letztlich das berühmte Gnadenbild der SS. Annunziata in Florenz.

[x] Gute Ausschnittvergrößerung bei: Hans Belting und Christiane Kruse: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994, Tf. 48.- Siehe auch: Daniela Hammer-Tugendhat: Jan van Eyck - Autonomisierung des Aktbildes und Geschlechterdifferenz, in: Kritische Berichte 1989, 78-99.

[xi] John Oliver Hand und Martha Wolff: Early Netherlandish Painting, Cambridge/Mass. 1986 (The Collections of the National Gallery of Art. Systematic Catalogue), 76-86 mit einer genauen Aufschlüsselung der Thematik.

[xii] Zu erinnern ist an die im 18. Jahrhundert (beim Abriß der an die Kathedrale von Amiens angebauten Häuser) aufgedeckten Statuen von Adam und Eva, die zerstört wurden, weil sie das Schamgefühl verletzten (Dieter Kimpel und Robert Suckale: Die gotische Architekturin Frankreich, 2. Aufl., München 1995, S. 247 ff. und passim), an die halb zerstörte Darstellung des Dornausziehers als Priapus am Turm der Kathedrale von Capua aus dem späten 12. Jahrhundert oder an die obszön-apotropäischen Torfiguren im Castello Sforzesco in Mailand. Leider ist das Thema noch nicht untersucht.

[xiii]. Otto Pächt: Altniederländische Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Gerard David, hg. von Monika Rosenauer, München 1994, S. 12. Das Bild befindet sich in der Alten Pinakothek in München und ist Teil eines dreiteiligen Retabels der Zeit um 1455-1460.
[xiv]. Die Verkündigungstafel van Eycks wird als eine um 1436 anzusetzende Stiftung Philipps des Guten von Burgund für die Kartause Champmol bei Dijon angesehen. Rogier dürfte das Bild dort bei der Ablieferung seines Jüngsten Gerichts für das Hospiz des Kanzlers Rolin in Beaune gesehen haben, falls er es nicht schon in der Werkstatt van Eyckskennengelernt hat.
[xv] Der Chor der Kirche allerdings stammt erst aus gotischer Zeit.

[xvi]. Nicht einmal für die Liturgie, obwohl der Erzengel Gabriel in pontifikale liturgische Gewandung gekleidet ist, wodurch allein schon der sakramentale Charakter der Handlung deutlich gemacht wird; s. James Marrow: Symbol and meaning in northern European art of the late middle ages and the early Renaissance, in: Simiolus 16, 1986, S. 150-169, bes. S. 151 und Carol J. Purtle: The Marian paintings of Jan van Eyck, Princeton 1982, S. 11 ff.
[xvii]. Hierfür steht die Kunst des Jean Bondol, deren naturmimetische Qualität am besten durch das Titelblatt der Bibel des Jean de Vaudetar für König Karl V. von Frankreich repräsentiert wird.
[xviii] Barbara G. Lane: Sacred versus profane in Early Netherlandish painting, in: Simiolus 18, 1988, 107-115 und die keineswegs überzeugende Replik von Craig Harbison: Religious imgaination and art-historical method: a reply to Barbara Lane's „Sacred versus profane", in: Simiolus 19, 1989, 198-205. Beide Autoren machen im übrigen m.E. denselben Fehler, die niederländische Kunst des 15. Jahrhunderts als eine in sich geschlossene Epoche anzusehen.

[xix] Zur Bedeutung der Pliniusrezeption s. Rudolf Preimesberger: Zu van Eycks Diptychon der Slg. Thyssen-Bornemisza, in: Zs. f. Kunstgesch. 60, 1991, 470 ff.

[xx] Klaus Schreiner: Maria, München 1996.

[xxi] Jochen Sander: Die niederländischen Gemälde im Städel 1400-1550, Mainz 1993, 244-263.

[xxii]. Ausgangspunkt ist wiederum das Gnadenbild der Santissima Annunziata in Florenz, bald nach der Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden.
[xxiii] Über diesen Maler und seine Schule s. Stephan Kemperdick: Der Meister von Flémalle. Die Werkstatt Robert Campins und Rogier van der Weyden, Turnhout (Brepols) 1997.

[xxiv] William S. Heckscher: The Annunciation of the Mérode Altarpiece. An Iconographic Study, in: Miscellanea Jozef Duverger, Bd. I, Gent 1968, 37-65, bes. S. 46 hat die Idee einer Darstellung der porta clausa bei Campin angedeutet; aber gerade im Vergleich zum Mérode-Triptychon wird deutlich, daß Rogier diesen Gedanken viel klarer faßt.

[xxv] Über Eycks Bild im Gruuthuse-Museum in Brügge s. Aquilin Janssens de Bisthoven: Musée Communal des Beaux-Arts (Musée Groeninge) Bruges, Brüssel 1983 (Les Primitifs Flamands 1), 175-193.- Rogiers Tafel befindet sich in der Gemäldegalerie Berlin SMPK.

[xxvi] Die Art der Haube und das Rot der Kleidung geben Frau van Eyck jedoch einen ranghöheren Zug; Rogiers Frau ist im Braun ihres Kleides und dem Gebende 'bürgerlicher'.

[xxvii] Nicole Veronee-Verhaegen: L'Hôtel-Dieu de Beaune, Brüssel 1973 (Les Primitifs Flamands 13).

[xxviii]. Zum Halbprofil s. Meyer Schapiro: Words and Pictures, Paris und Den Haag 1973.
[xxix] Auffällig ist auch, daß einige der Großbuchstaben auf (vor-)ottonische epigraphische Gewohnheiten zurückgreifen, so wenn das C wie [, ähnlich einer eckigen Klammer geschreiben wird.

[xxx] Rainald Grosshans: Infrarotuntersuchungen zum Studium der Unterzeichnung auf den Berliner Altären von Rogier van der Weyden, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 19, 1982, 137-177.

[xxxi] Colin T. Eisler: New England Museums, Brüssel 1961 (Les Primitifs Flamands 4), 71-93.

[xxxii] Gisela Kraut: Lukas malt die Madonna. Zeugnisse zum künstlerischen Selbstverständnis in der Malerei, Worms 1986, 45-57. Das Bild befindet sich im Kunsthistorischen Museum Wien.

[xxxiii] Allerdings gibt es einen auffälligen Unterschied in der Kleidung zwischen Bladelin und den heiligen Personen der Weihnacht.

[xxxiv]. Stephanus Hilpisch: Chorgebet und Frömmigkeit im Spätmittelalter, in: Odo Casel (Hg.): Heilige Überlieferung. Ausschnitte aus der Geschichte des Mönchtums und des heiligen Kultes (Festschr. Ildefons Herwegen), Münster 1938, 263-284, bes. 274 ff.- Bernhard Ridderbos: Die "Geburt Christi" des Hugo van der Goes. Form, Inhalt, Funktion, in: Jahrbuch der Berliner Museen 32, 1990, 137-152, der insbesondere auf den Traktat des Gründervaters der devotio moderna, Geert Grote, "De quattuor generibus meditabilium", hinweist.
[xxxv] Jochen Sander: Hugo van der Goes. Stilentwicklung und Chronologie, Mainz 1992, passim.

[xxxvi] Kat. der Ausstellung „Die Messe Gregors des Großen. Vision, Kunst, Realität", bearb. von Uwe Westfehling, Köln, Schnütgenmuseum 1982, bes. S. 24 und 60.- Das Bild von Wim Dedeke befindet sich im Lübecker St. Annen-Museum, das des Bartholomäusmeisters als Dauerleihgabe des Trierer Diözesanmuseums im Wallraf-Richartz-Museum Köln.- Doch ist immerhin bemerkenswert, daß beide Darstellungsweisen nebeneinander im Gebetbuch von König James IV. von Schottland, Wien, Österreich. Nationialbibl. cod. 1897, fol. 24 v und 243 v, vorkommen, s. Sixten Ringbom: Icon to Narrative. The rise of the dramatic close-up in 15th century devotional painting, Abo 1965, Abb. 2 und 3.

[xxxvii] Sander a.a.O., 267 ff.

[xxxviii] Sander a.a.O., 249 ff.

[xxxix] Meine Ausführungen über das Verhältnis zur Wirklichkeit bei diesen drei flämischen Malern wollen keineswegs eine Entwicklungslinie konstruieren. Die Geschichte dieser Fragestellung kann nicht in großen Zügen geschrieben werden, sondern nur nah an den jeweiligen Künstlern und Werken.

[xl]. Dabei ist im Auge zu behalten, daß der Begriff 'fantasia', der aus der Rhetorik und Poetik stammt, gerade im späten 15. Jahrhundert mehrheitlich noch positiv besetzt ist;  s. Martin Kemp: From 'mimesis' to 'fantasia'. The Quattrocento Vocabulary of Creation, Inspiration and Genius in the Visual Arts, in: Viator 8, 1977, 347-398. Auch zeigt etwa ein Blick auf die sog. Antwerpener Manieristen und andere Maler der Zeit um und nach 1500, daß sie sich willentlich der Phanstasiekunst zuwenden. In der unmittelbaren Nachfolge Hugos aber macht sich eine geistreiche Reflexion über das Verhältnis von Bild und Realität, über Schein und Sein, über die verschiedenen Wirklichkeitsebenen breit. In diesem Zusammenhang ist auch die Welle der Retrospektive auf die Gründerväter seit dem späten 15. Jahrhundert bemerkenswert, die zu einer Fülle von genauen Kopien führt.